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Was ist Musik „Weil Mama immer gern ein Gitarrensolo bringt, weil Papa ganz genau so wie Belafonte singt.“ Calypso Craze

ByteFM: Was ist Musik vom 19.10.2014

Ausgabe vom 19.10.2014: „Weil Mama immer gern ein Gitarrensolo bringt, weil Papa ganz genau so wie Belafonte singt.“ Calypso Craze

Seit Jahrzehnten ist das Bear Family Label aus dem norddeutschen Städtchen Holste-Oldendorf auf den großen bibliophilen Wurf abonniert. Umfangreiche Werkschauen, gerne auch Anthologien ganzer Genres sind die Spezialität des Hauses. Auch bei „Calypso Craze 1956-57 and beyond“ wird nicht gespart: 173 Songs auf sechs CDs, eine DVD des Hollywood-Films „Calypso Joe“ (mit der jungen Angie Dickinson), dazu das kiloschwere, opulent ausgestattete Begleitbuch von Ray Funk & Michael Eldridge.
Die erste CD ist der Zeit vor dem Boom gewidmet und beginnt mit einem Klassiker aus dem Jahr 1934. Im später vielfach – unter anderem von Robert Mitchum – gecoverten „Marry an ugly woman“ gibt Hubert R.Charles seinen
Geschlechtsgenossen einen wertvollen Rat: vom logischen Standpunkt her sei es doch besser, eine häßliche Frau zu heiraten, die mache weniger Ärger. Der Song schlägt gleich den passenden Ton an, er hat den Calypso-typischen Wortwitz, den doppelten Boden, die Herausgeber nennen es double entendre. Lange vor dem Ausbruch der Calypso Craze 1956 versuchen sich US-Show-Größen an dem exotischen Sound, Eartha Kitt etwa, Louis Jordan und Nat King Cole. Die CD „The Reluctant Calypso King“ ist Harry Belafonte vorbehalten, der Titel spielt auf die Skrupel des berühmten Entertainers an, der immer wieder betont, dass die meisten seiner Songs kein echter Calypso sind. Der Siegeszug der Musik aus Trinidad & Tobago ist mit zahlreichen Kuriositäten belegt, der neue Sound erobert Hollywood und den Broadway, das Fernsehen und die ferne Welt des mitteleuropäischen Schlagers. Von den Irrungen und Wirrungen der royalen (Post-)Kolonialgeschichte zeugt die Sammlung britischer Calypsos.
Die Herausgeber verzichten auf geschmäcklerische Hipness-Distinktion zugunsten eines zoologisch-dokumentarischen Pluralismus: da trifft das dänische Schlager-Duo Nina & Frederik auf Ella Fitzgerald, Tourismus-Reklame auf Louis Armstrong, ein Manchester United-Fussball-Calypso auf Bebop von Sonny Rollins. Angesichts des von Fernweh und Tourismus-Interessen befeuerten Booms spricht der Herausgeber Michael Eldridge zwar von „Hotel-Calypso“, setzt aber nicht auf die Authentizitätskarte. Die Anthologie spielt nicht das echt verschwitzte Original aus Trinidads dunklen Kaschemmen gegen den kulturindustriell zugerichteten, weißgewaschenen Sound aus. Sie hat ein Herz für die seltsamen Bastarde, die entstehen, wenn ein neuer Sound über den Teich kommt.



Globalisierung 1957: Die schwedische Sängerin Alice Babs singt den Calypso-Hit „Mama Look At Boo Boo“; auf deutsch.
„Mama ist aus Kuba und aus Jamaika ist der Papa,
das ist ein Leben voll Glück, so haben wir immer Musik,
und wenn die rote Sonne glüht, dann singt Papa mit uns das Lied,
Weil Mama immer gern ein Gitarrensolo bringt, weil Papa ganz genau so wie Belafonte singt.“
Der Nachkriegsschlager schweift in die Ferne, Alltags-Rassismen inklusive. Stets ein Lied auf den Lippen, der Sarotti-Mohr aus der Karibik.
„Mama ist aus Kuba“ ist einer von 173 Songs auf sechs CDs der „Calypso Craze“-Box, dazu eine DVD nebst kiloschwerem Begleitbuch. Das kuriose Fundstück findet sich in der Abteilung „Calypso Goes Global“ neben einer japanischen Version von „Banana Boat“ und dem „Nescafé Calypso“. Darin preist der aus dem Surinam stammende Max Woiski mit seiner holländischen Band den löslichen Kaffee; auf deutsch:
„Vom schönen Lande Kenia und auch aus Kolumbia,
ja auch aus Santos, hoppla hey, echter Kaffee, Nescafé.“
„Nescafé Calypso“ folgt auf „Atomic Energy“, ein Protest-Song, den der aus Trinidad stammende Lord Caresser 1948 für seine kanadische Radio-Show aufnimmt. Dem aus der Karibik nach England ausgewanderten Edric Connor verdanken wir den „Manchester United Calypso“. Drogen, Krieg, Fussball, Exotik, Migration - der welthaltig-eloquente Calypso läßt kein Thema aus. „Der Hauptgrund für die Popularität des ursprünglichen Calypso ist sein Wortwitz.“ Sagt Michael Eldridge, Co-Autor des Begleitbuchs. Es gehört zu den Aporien des Genres, dass beim Transfer von Trinidad in die weite Welt so manches an Wortwitz verloren geht, und der ernste Hintergrund vieler Lieder gleich mit. Nehmen wir „Rum & Coca Cola“, 1945 ein Riesenhit für die – weißen - Andrews Sisters aus Minnesota. „Wahrscheinlich wußten die wenigsten westlichen Hörer, dass `Rum & Coca Cola´ von Lord Invader stammte, ein Calypso-Künstler aus Trinidad“, so Eldridge. Und wahrscheinlich wußten die Wenigsten, was sich hinter der fröhlichen Fassade von „Rum & Coca Cola“ verbirgt. Ein Lied über die Verwerfungen der Sexual-Ökonomie. Im 2.Weltkrieg werden US-Soldaten in Trinidad stationiert. Sie überschwemmen die Insel mit Dollars und verwöhnen die Frauen mit Rum & Coca Cola – die machen ihnen im Gegenzug einen „besseren Preis“ – working for the Yankee Dollar. „`Rum & Coca Cola´ war eigentlich eine Beschwerde über das Chaos, das die GI´s in Trinidad im 2.Weltkrieg verursacht haben“, sagt Eldridge. Ein zwecks Truppenbetreuung in Trinidad tätiger US-Komiker hört den Song, ändert den Text, die Andrews Sisters passen ihn dem US-Geschmack an und landen den bis dato größten Calypso-Hit. Und das zunächst ohne Airplay im Radio: moralisch bedenklich, Alkohol, Schleichwerbung für Coca Cola. In den USA und Europa, das belegt die Sammlung aufs Schönste wie aufs Schaurigste, wird Calypso kommodifiziert, verpoppt, verjazzt, verschlagert, vergeigt…
Die Herausgeber verzichten auf geschmäcklerische Hipness-Distinktion zugunsten eines zoologisch-dokumentarischen Pluralismus: da trifft die Schwedenmama auf Ella Fitzgerald, Tourismus-Reklame auf Louis Armstrong, ManU-Calypso auf Bebop von Sonny Rollins. Eldridge spricht zwar von Hotel-Calypso, setzt aber nicht auf die Authentizitätskarte. Die Anthologie spielt nicht das echt verschwitzte Original aus Trinidad gegen den kulturindustriell zugerichteten, weißgewaschenen Sound aus. Sie hat ein Herz für die seltsamen Bastarde, die entstehen, wenn ein neuer Sound über den Teich kommt. Spiegelt sich im Calypso die Geschichte der Ausbeutung des Südens durch den Norden? „Ja und nein“, meint Eldridge. „Viele Amerikaner haben Geld gemacht mit Calypso. Wenige Leute aus Trinidad haben davon profitiert. Das passt ins Narrativ: Weiße Musiker beuten schwarze aus, der Norden den Süden.“ Calypso lebt mit den Widersprüchen und Missverständnissen der Rezeption jenseits der Inseln. Und mit der politischen Vereinnahmung. Mitte der 50er versetzt Rock´n´Roll das konservative Amerika in Panik, er wird denunziert als moralisch bankrotte Negermusik, die die Jugend verdirbt. Also wird ausgerechnet Calypso vermarktet als saubere Alternative. „Es gab dieses Wunschdenken“, so Eldridge: „Rock´n´Roll ist tot, Calypso ist das neue große Ding! Je schneller, desto besser.“
Dieses Wunschdenken nimmt Robert Mitchum aufs Korn. Der Hollywood-Star produziert 1957 ein hinreißendes Album mit Calypsos, komplett mit fake accent. Mit der ihm eigenen minimalistischen Ironie fragt Mitchum, was denn werden soll aus den Teenagern, die Tag und Nacht am Rock´n´Rollen sind? Die Eltern sind ratlos: What is this Generation coming to? Nicht alle Hörer erfassen das Augenzwinkern in Mitchums Kommentar zu den Ängsten amerikanischer Spießer. „Die besondere Qualität des Calypso ist seine Mehrdeutigkeit“, so Michael Eldridge, das double entendre. „Viele Hits der Calypso Craze waren bloß noch single entendre.” Die friedliche Koexistenz von Einfalt und doppeltem Boden darzustellen, die Dialektik des Kulturtransfers, das ist eine der vielen Stärken dieser Edition.

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Playlist

1.  Hubert H.Charles / Marry An Ugly Woman
Calypso Craze / Bear Family
2.  Attila / Roosevelt In Trinidad
Calypso Craze / Bear Family
3.  The Andrews Sisters / Rum And Coca Cola
Calypso Craze / Bear Family
4.  Harry Belafonte / Banana Boat
Calypso Craze / Bear Family
5.  Michiko Hamamura / Banana Boat
Calypso Craze / Bear Family
6.  Alice Babs / Mama Ist Aus Kuba
Calypso Craze / Bear Family
7.  Ella Fitzgerald / Stone Cold Dead In The Market
Calypso Craze / Bear Family
8.  Wilmouth Houdini / He Had It Coming
Calypso Craze / Bear Family
9.  Wilmouth Houdini / Black But Sweet
Poor But Ambitious – Calypso Classics / Bear Family
10.  Sir Lancelot / Hacienada Hotel Radio Advertisement
Calypso Craze / Bear Family
11.  Nat King Cole / Calypso Blues
Calypso Craze / Bear Family
12.  Mona Baptiste / Calypso Blues
Calypso Craze / Bear Family
13.  Lord Invader / My Experience On The Reeperbahn
Calypso Craze / Bear Family
14.  Duke Of Iron / Parakeets
Calypso Craze / Bear Family
15.  Damon Albarn / Parakeet
Everyday Robots / Emi
16.  Edric Connor / Manchester United Calypso
Calypso Craze / Bear Family
17.  Lord Kitchener / Kitch’s Bebop Calypso
Calypso Craze / Bear Family
1 8.  Robert Mitchum / What Is This Generation Coming To
Calypso Craze / Bear Family
1 9.  Sonny Rollins / Don’t Stop The Carnival
Calypso Craze / Bear Family