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Was ist Musik Smoke On The Water mal nicht am Genfer See - Auto Modown und der Niedergang des Mittleren Westens 75 bis 82

ByteFM: Was ist Musik vom 05.04.2015

Ausgabe vom 05.04.2015: Smoke On The Water mal nicht am Genfer See - Auto Modown und der Niedergang des Mittleren Westens 75 bis 82

Wie klingt eigentlich Nürnberg? Nach Bratwurst? Wie klingt Freiburg? Nach Fahrradfahrern und Backgammonspielern, wenn es nach Tocotronic geht? Und Hamburg? Nach dem Hafen, an dem die Fische und die Schiffe schlafen, wie die Lassie Singers behaupten? Kassel klingt nach Punk, Aufklärung folgt. Die Vorstellung, dass ein bestimmter Sound zu einer bestimmten Stadt gehört, schaut umso romantischer zurück, je weiter sie in die Vergangenheit entschwindet. Motown, der Soul der Autostadt Detroit, Philly, der Himmel voller Proto-Disco-Geigen in Philadelphia. »Sound of the City« - so bezeichnet der Kritiker Charlie Gillett in seinem gleichnamigen Buch den industriellen Lärm in der Blüte des Fordismus, zu einer Zeit also, da die Fabrik der Mittelpunkt des Lebens ist und seinen Rhythmus bestimmt. Das Rotieren der Bänder, das Hämmern und Fräsen, Schweissen und Sägen, das Rauschen des Straßenverkehrs – all das findet ein Echo im Rock'n'Roll der Fünfziger und Sechziger Jahre. „Der Rock’n’Roll war vielleicht die erste Form populärer Kultur, die ohne Vorbehalt Eigenschaften des Großstadtlebens feierte, die bis dahin zu den am meisten kritisierten gezählt hatten“, schreibt Gillett. „Im Rock’n’Roll wurden die harten und monotonen Klänge des Stadtlebens als Melodie und Rhythmus reproduziert.“ Vorbei. Fabriken verabschieden sich nach Bangladesch. „Das Lokale ist aus der Musik verschwunden“, sagt der britische Pop-Historiker Jon Savage („England's Dreaming“). „Das hat zu einer allgemeinen Angleichung und Verflachung von Sound geführt.“ Savage hat die Linernotes geschrieben zu “Punk 45 – Cleveland, Ohio: Punk And The Decline Of The Mid-West 1975-82”, eine von zwei Compilations, die sich dem Niedergang des Mittleren Westens in den späten Siebzigern widmen – und dem musikalischen Echo der Deindustrialisierung im Punk made in Ohio. Punk? Wenn wir heute von US-Punk reden, dann reden wir von den Küsten-Metropolen: New York, Los Angeles, San Francisco. Die Plattenfirma Soul Jazz ist auf Anthologien spezialisiert, die den Sound einer jeweiligen Region und Epoche rekonstruieren und so posthum eine geopolitisch-popkulturelle Ordnung stiften, wo zu Lebzeiten unsortierte Ungleichzeitigkeit geherrscht haben mag. Diesmal lenkt Soul Jazz den Blick in Richtung Erie-See. „The mistake on the lake“, so wird Cleveland genannt, der Fehler am See. In der einstigen Industriestadt in Ohios Nordosten mündet der Cuyahoga River in den Erie-See. Wenn er nicht gerade in Flammen steht, wie im Juni 1969. Der Fluss ist derart verseucht von Industrieabfällen, Öl, Chemikalien und Schutt, dass das explosive Gemisch sich entzündet. Flammen auf dem Wasser, eine riesige Rauchwolke, Smoke on the water mal nicht am Genfer See. Der brennende Cuyahoga wird zum industriellen Kunstwerk, zum Mahnmal. Den Song dazu schreibt keine Punkband aus Ohio, das übernimmt Randy Newman: „Ein roter Mond über dem Cuyahoga, ein Öl-Schiff auf dem Cuyahoga. Cleveland, du Stadt des Lichts, Stadt der Magie, brenne weiter großer Fluss, brenne weiter”, singt Newman 1972. Sechs Jahre später meldet Cleveland als erste Stadt nach der Großen Depression Bankrott. Weitere folgen, die Agonie der Autoindustrie hinterläßt Geisterstädte in Ohio, „Streets where nobody lives“ in „Dead End America“, um es mit zwei 100-Sekunden-Punk-Fegern der Pagans aus der Cleveland-Untergangs-Werkschau zu sagen. Oder mit Rocket From The Tombs: „Life stinks“, es stinkt in Ohios Fabriklandschaften, nach Schwefel, Gummi und nach Brackwasser. Aber, wie dem Scheitern die Chance, so wohnt dem Gestank der Glamour inne, findet wenigstens David Thomas, als Sänger bei Rocket From The Tombs und später Pere Ubu eine Art Glöckner von Cleveland, das große Unikum in Rock. „Die Stadt, die ich liebe wird von allen anderen gehaßt. Wir konnten sie in Besitz nehmen, weil keiner sie haben wollte.” Diesen Satz von David Thomas zitiert Jon Savage in den Liner Notes. Der Brite Savage, wie Thomas Jahrgang 1953, weiß wovon er redet. „Diese entvölkerten Räume mochte ich in den Siebzigern sehr, lange bevor ich von Pere Ubu gehört hatte. 1976 habe ich den Sommer in Leeds verbracht, einer Industriestadt im englischen Norden, die schon am Verrotten war. Da gab es natürlich viel Armut und Elend, aber eben auch die Freiheit, zu atmen, sich zu bewegen und das war unglaublich wichtig.“ Kurz darauf kommen aus Leeds linke Art-Punkbands, The Mekons, Gang Of Four.

Pere Ubu sind auf „Punk 45“ mit “Heart of Darkness” und „Final Solution“ vertreten, zwei Fünf-Minuten-Songs, die Dunkelheit und Ende schon im Titel tragen und sich von der punkplakativen Parolenhaftigkeit anderer Songs durch eine, nun ja, epische Tiefe unterscheiden, die sich auch der Tiefe der Bassgitarre verdankt. David Thomas dürfte das anders sehen. Der Sänger der Band, die sich nach „König Ubu“, einem Theaterstück des französischen Prä-Surrealisten Alfred Jarry, benannte, ist ein Mann von eigenen Überzeugungen. Das habe ich in Kassel gelernt, beim Punk-Kongress. Ja, Kassel, die Heimat des ehemaligen Finanzministers Hans Eichel, ist 2004 Schauplatz eines Punk-Kongresses. Zur Feier des Tages gibt David Thomas ein Reunion-Konzert mit Rocket From The Tombs. Danach kommen wir ins Gespräch und während er zügig eine Flasche Remy Martin leert, gibt er Nachhilfeunterricht in Rock. Pere Ubu seien auf keinen Fall eine Punk-Band oder gar eine New Wave-Band und schon gar nicht: eine Industrial Band, um Himmels Willen. Nein, Pere Ubu sind eine amerikanische Rock-Band, Rock & Roll ist eine genuin amerikanische Kunst und er, David Thomas, würde jederzeit noch die ödesten Songs von John Cougar Mellencamp dem Gesamtwerk von Morrissey und den Smiths vorziehen. Basta. Tja, auch im Pop ist das Werk manchmal klüger als sein Schöpfer.

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Playlist

1.  The Pagans / Dead End America
Extermination Nights In The Sixth City – Cleveland, Ohio: Punk And The Decline Of The Mid-West 1975-82 / Soul Jazz
2.  Rocket From The Tombs / Life Stinks
Extermination Nights In The Sixth City – Cleveland, Ohio: Punk And The Decline Of The Mid-West 1975-82 / Soul Jazz
3.  Canned Heat / Going Up The Country
Woodstock / Atlantic
4.  The Pagans / Street Where Nobody Lives
Extermination Nights In The Sixth City – Cleveland, Ohio: Punk And The Decline Of The Mid-West 1975-82 / Soul Jazz
5.  Devo / Auto Modown
Burn, Rubber City, Burn – Akron, Ohio: Punk And The Decline Of The Mid-West 1975-80 / Soul Jazz
6.  Devo / Mechanical Man
Burn, Rubber City, Burn – Akron, Ohio: Punk And The Decline Of The Mid-West 1975-80 / Soul Jazz
7.  Rubber City Rebels / Kidnapped
Burn, Rubber City, Burn – Akron, Ohio: Punk And The Decline Of The Mid-West 1975-80 / Soul Jazz
8.  Randy Newman / Burn On
Sail Away / Reprise
9.  The Pretenders / My City Was Gone
Learning To Crawl / Wea
10.  Pere Ubu / Final Solution
Extermination Nights In The Sixth City – Cleveland, Ohio: Punk And The Decline Of The Mid-West 1975-82 / Soul Jazz
11.  Pere Ubu / Heart Of Darkness
Extermination Nights In The Sixth City – Cleveland, Ohio: Punk And The Decline Of The Mid-West 1975-82 / Soul Jazz
12.  The Broncs / Tele-K-Killing
Extermination Nights In The Sixth City – Cleveland, Ohio: Punk And The Decline Of The Mid-West 1975-82 / Soul Jazz
13.  15 60 75 The Numbers Band / Narrow Road
Burn, Rubber City, Burn – Akron, Ohio: Punk And The Decline Of The Mid-West 1975-80 / Soul Jazz
14.  Denis Defrange / Sector Wars
Extermination Nights In The Sixth City – Cleveland, Ohio: Punk And The Decline Of The Mid-West 1975-82 / Soul Jazz
15.  Electric Eels / Bunnies
Extermination Nights In The Sixth City – Cleveland, Ohio: Punk And The Decline Of The Mid-West 1975-82 / Soul Jazz