Jedes Mal anders – Mit siebzig hört Robert Wyatt auf, Musik zu machen
Schon als er noch stehen konnte war Robert Wyatt keiner von den Männern, die auf ein Schemel steigen, wenn sie mit einer großgewachsenen Frau fotografiert werden. „Extrovertiert, exhibitionistisch, promisk“, so hat Hugh Hopper ihn mal charakterisiert, sein Bandkollege bei Soft Machine. Extrovertiert, exhibitionistisch, promisk, das sind nicht die Eigenschaften, die man heute mit Robert Wyatt verbindet. Mit dem späten Karl Marx teilt er neben gewissen Überzeugungen auch Haar- und Barttracht. Und er sitzt im Rollstuhl. Das Leben des Robert Wyatt, wie es Marcus O'Dair in der lesenwerten Biografie „Different Every Time“ erzählt, zerfällt in Vorher-Nachher-Bilder. Am 1.Juni 1973 stürzt er – selten war das Wort sturzbetrunken so angebracht – bei einer Party aus einem Fenster im vierten Stock und ist fortan von der Hüfte abwärts gelähmt. Vorher war Wyatt ein Schlagzeuger, der gelegentlich gesungen hat. Nachher ist Wyatt ein Sänger, der gelegentlich Keyboards spielt, auch Handperkussion. Vorher war Wyatt ein Mann, der die Frauen liebte, um es euphemistisch mit Truffauts Filmtitel zu sagen, Womanizer klingt weniger romantisch. Nachher ist Wyatt ein Mann, der eine Ehefrau liebt, Alfreda „Alfie“ Benge, die ihn managt, seine Plattencover malt und die er in Songs wie „Alifib“ und „Alifie“ verewigt. Vorher war der Drummer Wyatt in Bands wie Soft Machine und Matching Mole dem damals noch über fast jeden Zweifel erhabenen Fortschrittsparadigma des Jazzrock verpflichtet. Nachher exhumiert der Sänger Wyatt zu sparsamer Begleitung politische Songs aus der Steinzeit der populären Musik, Billie Holidays „Strange Fruit“ über die Lynchmorde des Ku Klux Klan, „Stalin wasn't Stallin“, den vom Golden Gate Quartet berühmt gemachten Schlag-den-Adolf-Doo-Wop, auch das Lied von der Roten Fahne. Als Gast der Band Working Week singt Wyatt 1984 „Venceremos“, der Song ist Victor Jara gewidmet, dem im Zuge des Militärputsches in Chile ermordeten Protestsänger. „Venceremos“, ein linkes Selbstermutigungslied der schlichten Art, interpretiert mit dieser so unvirilen, weichen Stimme. Viele der politischen Songs von Wyatt leben von dem eigenartigen Kontrast zwischen kämpferischen Inhalten und einem Vortrag, der an seinen eigenen Botschaften zu zweifeln scheint. Vorher war Robert Wyatt lebensfroher Hedonist, nachher ist Robert Wyatt depressiver Kommunist und Anti-Imperialist alter Schule. Nein, so ganz geht dieses jetzt siebzig Jahre währende Leben nicht auf im Vorher-Nachher-Schema. Schließlich heißt die Biografie wie die begleitende Werkschau: Different every time. Schon vor dem Fenstersturz leidet Wyatt unter Depressionen, seine Frau Alfie beschreibt ihn als hyperaktiv und spricht von manischen Schüben. Wyatt selbst läßt die Umstände des Sturzes im Dunkeln. „Really drunk“ für seine Verhältnisse sei er gewesen in jener Nacht, meint der Gewohnheitstrinker, bis hin zu Halluzinationen. 2003 deutet er sogar einen Selbstmordversuch an: „Sie haben mich rausgeworfen, also habe ich mich rausgeworfen, aus dem Fenster.“ Sie, das sind seine Mitmusiker bei Soft Machine, die ihrem Schlagzeuger mit Popstarqualitäten 1971 nach drei Alben den Laufpass geben. Die für Wyatt traumatische Trennung wirft ein Licht auf die schlichten Dichotomien, die zu dieser Zeit den Pop-Diskurs prägen, allen voran das Dogma vom Grundwiderspruch: Kommerziell vs. Progressiv. Nach dieser simplen Logik ist ein schwarzer Mann mit Anzug und Kurzhaarschnitt, der 1968 mit Drei-Minuten-Boy-meets-Girl-Singles in die Charts geht, nennen wir ihn Marvin Gaye, eine willenlose Marionette der Kulturindustrie, die mit wertlosem Schund die werktätigen Massen sediert und so von der Vertretung ihrer wahren Interessen abhält. Er ist, in aller Verachtung: kommerziell. Eine weiße Band in Fetzen & Fransen, deren Songs wie ihre Haare proportional an Struktur verlieren wie sie an Länge gewinnen und die möglichst viele musikalische Einflüsse zu integrieren sucht, ist dagegen, in aller Wertschätzung: progressiv. Exemplarisch für das Wyatt-Dilemma mit den Dichotomien eine Geschichte, die in O'Dairs Biografie leider fehlt: Um 1967 herum spielen Soft Machine im Vorprogramm von Geno Washington. Washington ist jener afroamerikanische Soul-Shouter, den Dexy's Midnight Runners 1980 mit „Geno“ unsterblich machen sollten. Nach dem Konzert kommt ein Fan zu Wyatt und lobt den Auftritt von Soft Machine, der sei toll gewesen, im Gegensatz zu diesem kommerziellen Scheiß´ von Geno Washington. „Dabei hätte ich alles dafür gegeben, so einen kommerziellen Scheiß´ hinzubekommen“, so Wyatt. Bei Soft Machine wird der singende Schlagzeuger zum Problemfall. Anfangs ist der blonde Posterboy die zentrale Figur neben seinen eher unscheinbaren Band-Mates. Auf die Bühne geht er am liebsten in Unterhosen und sonst nichts, was in den USA schon mal zu Auftrittsverboten führt. Für den schmächtigen kleinen Typen mit der haarlosen Brust und dem Babyface-Lächeln hätte eigentlich der Begriff metrosexuell erfunden werden müssen, der ja mit dem Ende von David Beckhams Fußballkarriere irgendwie aus der Mode gekommen ist. Dass der halbnackte Robert beim weiblichen Publikum Beschützerinnen- und andere Instinkte weckt, kommt beim Rest der Soft Machine genauso wenig gut an wie sein Hang zum Gesang, der mit dem Fortschrittsparadigma kollidiert, nach dem wahrhaft progressive Musik die menschliche Stimme gewissermaßen hinter sich zu lassen habe. Schließlich wird Wyatt gefeuert, “musikalischen Differenzen”. Hinter der lapidaren Begründung lauert das Wyatt-Dilemma: „Fusion-Jazz war für mich the worst of both worlds. Rock-Rhythmen, ziemlich kraftlos gespielt, mit improvisierten, sehr komplizierten Soli obendrauf. Ich mochte eher das Gegenteil: den leichten Fluss einer Jazz-Rhythmusgruppe, aber dazu die beinahe Folk-hafte Einfachheit populärer Songs.“ Beiläufig formuliert Robert Wyatt hier eine Ästhetik und, ja, auch Ethik seines künstlerischen Schaffens, sein ganz eigenes best of both worlds, das ihn zu so einer singulären Figur im Pop macht. Ein Marxist, der den „Song for Che“ mit der selben Emphase singt wie „I'm a believer“, den Hit der Monkees, der - Gott bewahre! - ersten Casting-Band der Menschheitsgeschichte. Ein weißer Mann mit einer hohen, polarisierenden Stimme, der es sich mit both worlds verscherzt, als er Chics „At last I am free“ singt. Die einen meinen, ganz Dichotomie der alten Schule, der linke Intellektuelle solle doch die Finger von dieser dekadenten Disco-Truppe lassen, das sind diejenigen, die nie von Nile Rodgers' Black Panther-Jugend gehört haben. Die anderen, gefangen in der Schwarz-Weiss-Dichotomie, kritisieren den wenig soulfullen Vortrag Wyatts, der es mit der emotionalen Deepness von Chics Freiheitshymne so gar nicht aufnehmen könne. Dabei kann ein Weißer mit so einer dünnen Stimme diesem Lied gar nicht anders gerecht werden, als so: gestisch, Differenz(en) kenntlich machend.