„Loveless“ von My Bloody Valentine wird 30 Jahre alt

Bild des Albumcovers von „Loveless“ von My Bloody Valentine, das am 4. November 2021 30 Jahre alt wird.

My Bloody Valentine – „Loveless“ (Creation Records)

In der großen, weiten Welt der Popkultur gibt es so einige Standardwerke, an denen kein Weg vorbeiführt. Die Rede ist von Meilensteinen, die die Richtung ihres Mediums für immer änderten. Und deren Einfluss bis heute spürbar ist. Für den Film sind es wegweisende Streifen wie „Citizen Kane“ oder „Psycho“. Für die Literatur sind es Mammutwerke wie „Moby Dick“ oder „Krieg und Frieden“. Und für die Popmusik, da gibt es ziemlich viele. Wer sich mit Jazz auseinandersetzen will, muss Miles Davis„Kind Of Blue“ gehört haben. Wer Rock-Musik verstehen möchte, kommt nicht um Jimi Hendrix’ genauso kleine wie bahnbrechende Diskografie herum. Und wer schon einmal das Wort „Shoegaze“ gelesen hat, der hat als Hörempfehlung (möglicherweise schon im selben Satz) My Bloody Valentine und ihr zweites Studioalbum „Loveless“ aufgedrückt bekommen. Ein Album, das am 4. November 2021, 30 Jahre alt wird.

Mit diesem Ruf kommt ein antizipatives Gewicht. Fast schon ein Druck. Alle diese erwähnten Kunstwerke muss man quasi lieben, um sich ernsthaft mit dem jeweiligen Genre befassen zu können. Ein Problem dabei: Was vor 100, 80, 50 oder 30 Jahren wegweisend war, muss heutzutage nicht unbedingt immer noch umhauen. Das ist die Krux mit Standardwerken: Das, was sie besonders macht, wird schnell zum Standard. Die im Jahr 1941 wahnsinnig innovativen Schnitttechniken von „Citizen Kane“ sind im Jahr 2021 normaler Bestandteil des Filmemachens. Die modalen Tonleiter-Experimente von „Kind Of Blue“ beherrscht mittlerweile jeder Fußgängerzonen-Saxofonist.

Lärm und Liebe

So erging es auch dem Autoren dieser Zeilen, als er zu Beginn der 2010er-Jahre zum ersten Mal „Loveless“ hörte. Viel hatte er gelesen über den massiven Einfluss dieses einzigartigen Albums. Und dann, als das Riff von „Only Shallow“ zum ersten Mal aus seinen heimischen Boxen zischte, kam schnell ein bekanntes Gefühl: „Ist das alles?“ Klar, die Musik der britisch-irischen Band war rauschend und verzerrt, wie von zahllosen Musikmagazinen angepriesen wurde. Aber irgendwie kam das alles doch ein bisschen bekannt, fast schon zahm vor. Im Falle dieses Autors sollten ein paar Jahre vergehen, bis der „Loveless“-Groschen endgültig fiel.

Gitarrist und Band-Mastermind Kevin Shields gründete My Bloody Valentine gemeinsam mit Schlagzeuger Colm Ó Cíosóig im Jahr 1983. Die Band begann ihre Karriere als Post-Punk-Gruppe, gut nachzuhören auf ihrem 1985er Debüt-Minialbum „This Is Your Bloody Valentine“. 1987 etablierte sich das bis heute finale MBV-Line-up, mit Debbie Googe am Bass und Bilinda Butcher an Gitarre und (gemeinsam mit Shields) am Lead-Gesang. Aus dem The-Cure-Gedächtnis-Goth wurde langsam ein eigener, neuer Sound, kulminierend in der zwischen Flugzeug-Lärm und verträumter Harmonie balancierenden EP „You Made Me Realise“ (1988) und der im selben Jahr veröffentlichten, ebenso zwiegespaltenen Debüt-LP „Isn’t Anything“.

Und dann kam „Loveless“, der die Band definierende Meilenstein. Allein seine Entstehungsgeschichte ist legendär: Im Januar 1989 begann die Band den Aufnahmeprozess für ihr zweites Album. Beendet wurde es im September 1991. Innerhalb dieser zweieinhalb Jahre arbeiteten My Bloody Valentine in 19 verschiedenen Studios – und trieben dabei ihr Label Creation Records in den Bankrott. Aufgrund der langen Zeit vergaß Shields mitunter, welche Gitarrenstimmung er für welchen Song benutzt hatte.

Genauso legendär ist die tatsächliche Musik. Shields und Butcher schichten Gitarrenspuren auf Gitarrenspuren auf Gitarrenspuren. Der durchweg wunderschöne Harmoniegesang ist inmitten dieses Meeres ertränkt, mitunter kaum hörbar. Drums und Bass sind mehr Hintergrundinstrumente als Fundament, das erstaunlich groovende „Soon“ ausgenommen. Die Stars dieses Albums sind die Gitarren, jede einzelne von Ihnen eine vom Fuzz und konstant geschwenkten Vibrato-Arm ausgewaschene Klangwelle. Andere Shoegaze-Bands wie Ride hatten schon vor diesem Album neue Standards für die Mischung aus Lärm und Liebe gesetzt, doch „Loveless“ trieb das alles auf die Spitze. Shields und Konsorten hatten die von Phil Spector etablierte „Wall of Sound“ endgültig aus den Angeln gehoben – und ließen ihren Sound-Tsunami mit voller Kraft aus den Boxen schallen.

Dies können sie natürlich nur, wenn man es an seinem individuellen Abspielgerät auch zulässt. Das war der Kardinalfehler des Autoren, der damals „Loveless“ auf WG-Zimmer-Lautstärke aus einem kleinen CD-Spieler hörte. Diese Musik braucht die Lautstärke, das komplette Öffnen aller Kanäle, um so groß zu klingen, wie der ihr vorauseilende Ruf behauptet. Dann kann sie auch 30 Jahre später noch Berge versetzen.

Veröffentlichung: 4. November 1991
Label: Creation Records

Bild mit Text: „Ja ich will Radiokultur unterstützen“ / „Freunde von ByteFM“

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