John Cale – „Mercy“ (Album der Woche)

Cover des Albums „Mercy“ von John Cale, das unser ByteFM Album der Woche ist.

John Cale – „Mercy“ (Double Six / Domino)

John Cale ist im vergangenen März 80 Jahre alt geworden und ist immer noch neugierig. „Es gibt so viele großartige Kunst da draußen“, sagt der Waliser. „Du musst Dir den Drang bewahren, entdecken zu wollen.“ Das ist leicht gesagt für einen Menschen, dessen Curriculum Vitae sich wie eine Historie der modernen Pop liest. Seit seinem Umzug nach New York 1963 war Cale nicht nur Gründungsmitglied von The Velvet Underground, einer der stilprägendsten Bands aller Zeiten. Als Produzent arbeitete er an einer schwindelerregenden Menge an Klassikern mit. Beim Debütalbum von The Stooges, bei den Soloalben von Nico, bei Patti Smiths „Horses“, beim Debüt von The Modern Lovers. Neben Brian Eno ist er vielleicht die einflussreichste Person der alternativen Pop-Musik. Und der wohl einzige Mensch, der sowohl mit Andy Warhol zusammenarbeitete und auf einem „Shrek“-Soundtrack zu hören ist.

Erdrückende Langsamkeit

Und trotz dieser Karriere hat John Cale immer noch kein Interesse daran, auf der Stelle zu treten. „Mercy“, sein 17. Soloalbum und sein erstes nach über zehn Jahren mit komplett neuen Songs, war eigentlich schon Anfang 2020 fertig. Dann kam der Lockdown. Und Cale machte einfach weiter. Ließ die Songs mutieren, sich von den neuen Katastrophen und Unruhen neu formen. Und schraubte so lange an diesem Opus herum, dass es mittlerweile ein komplett neues Biest geworden ist. „Mercy“ ist ein sehr langes, extrem dichtes, düsteres Avant-Pop-Album über den bevorstehenden Untergang der Menschheit – und ein Appell an das, was uns vielleicht noch retten kann: Gnade.

Die Neugier dieses Künstlers zeigt sich zuallererst bei einem Blick in die Albumcredits. Cale hat für „Mercy“ eine neue Generation an Musiker*innen eingeladen, die wahrscheinlich alle selber von seinen Arbeiten beeinflusst worden sind. Der Großteil der Gästeliste ist von elektronischen Artists dominiert: Das Album beginnt mit Synthesizer-Texturen von Avant-Electronica-Künstlerin Laurel Halo. „Marilyn Monroe’s Legs (Beauty Elsewhere)“ ist eine Zusammenarbeit mit Outsider-House-Produzent Actress, dessen Geklacker und Gefiepe einen unruhigen Kontrapunkt zu Cales anmutiger Stimme bildet. Das Electro-Pop-Duo Sylvan Esso steuert Gesang und Gitarre zum fast schon an Chillwave erinnernden „Time Stands Still“ bei. „Everlasting Days“ ist von den Dada-Beach-Boys-Harmonien und Synth-Störgeräuschen von Animal Collective durchzogen, im Kontrast zu hinreißenden Streicher-Harmonien. In „I Know You’re Happy“ bringen die argentinische R&B-Künstlerin Tei Shi und Gast-Gitarrist Blood Orange ein bisschen Funk in dieses erdrückend langsame Album.

Umwerfende Schönheit

Diese Langsamkeit ist Teil des Konzepts. Die Welt, die Cale in „Mercy“ beschreibt, ist keine schöne. Im Titelsong spricht er von der alltäglichen Waffengewalt seiner Wahlheimat. Von Leben, die „mattern“, und denen, die es nicht tun. In „The Legal Status Of Ice“ tariert er gemeinsam mit Fat White Family auf bewusst apathische Art und Weise die Legalität des Klimawandels aus. Sowohl die Kirche als auch Europa sind eh schon lange untergegangen, wie er in „Time Stands Still“ fast schon beiläufig beschreibt.

Doch tief in dieser Dunkelheit ist ein schlagendes Herz, mit dem Namen „Story Of Blood“. Es ist der große Hoffnungsschimmer von „Mercy“ – und der mit Abstand umwerfendste Song des Albums. Gemeinsam mit den Gänsehaut-Harmonien von Weyes Blood – die auf ihrem aktuellen Album ganz ähnliche Themen bearbeitet – erzählt er die ewige Geschichte des Bluts und einen möglichen Ausweg. „I’m going back to get them, my friends in the morning / Bring them with me into the light“, singen sie zusammen. „Swing your soul / Swing your soul.“ Die Welt von „Mercy“ ist schrecklich und doch voll Schönheit, die es zu entdecken lohnt. Alles was man mitnehmen muss, ist ein bisschen Neugier.

Veröffentlichung: 20. Januar 2023
Label: Double Six / Domino

Bild mit Text: „Ja ich will Radiokultur unterstützen“ / „Freunde von ByteFM“

Das könnte Dich auch interessieren:



Deine Meinung

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert.