Neue Platten: Lubomyr Melnyk – "Corollaries"

Lubomyr Melnyk - Corollaries (Erased Tapes)Lubomyr Melnyk – „Corollaries“ (Erased Tapes)

8,0

Der rauschbärtige Mann hätte sich keinen besseren Zeitpunkt für seine Wiederentdeckung aussuchen können. Nie waren die reinen Klavier-Klänge allgegenwärtiger als in den vergangenen zwei, drei Jahren. Nils Frahm, Rachel Grimes, Poppy Ackroyd und Ólafur Arnalds sind nur die bekanntesten Namen in einer täglich länger werdenden Liste der Pianisten, die sich musikalisch irgendwo zwischen Pop und Klassik bewegen. Und genau diese Unentschiedenheit ist ihr großer Vorteil: Sie können sowohl an Bandkonzepte andocken als auch sinfonische Welten bedienen. Erased Tapes ist dabei das Label geworden, das für viele Künstler dieser irritierenderweise als Neo-Klassik betitelten Musik eine Heimat geworden ist. So auch für den 1948 in der Ukraine geborenen und in Kanada lebenden Lubomyr Melnyk, der lange Jahre seine Platten selbst verlegte. Ende 2011 erschien dann überraschend „The Voice Of Trees“ auf dem Schweizer Label Hinterzimmer Records. Die Aufnahmen dazu stammten aus dem Jahr 1983 und wurden von Lubomyr Melnyk an zwei Pianos und Melvyn Poore an drei Tubas eingespielt. Auch durch das fast 30 Jahre verspätete Erscheinen hat die Platte, die vorher niemals offiziell veröffentlicht worden war, nichts von ihrer faszinierenden Schönheit eingebüßt. Vielmehr darf man sich die berechtigte Frage stellen, warum Melnyk eigentlich nie den Bekanntheitsgrad eines Philip Glass oder Terry Riley erreicht hat.

Aber das kann jetzt nachgeholt werden. Mit „Corollaries“ darf der inzwischen 65-Jährige endlich und gerne ein größeres Publikum erreichen. Labelkollege Peter Broderick hat als Produzent Melnyks Pianospiel mit unaufdringlichen und kleinteiligen Klängen umgeben, die kaum merkbar die Atmosphäre der Platte entscheidend prägen. Dass er dabei gleich im ersten Stück der Platte, dem fast 20-minütigen „Pockets Of Light“, sogar einige Passagen gesanglich begleitet, ist des Guten fast schon zu viel. Sein größtes Verdienst ist aber, Melnyks Musik von ihrem Zahlenwahn befreit zu haben. Auf „Corollaries“ geht es zum Glück nicht mehr um 19 Töne pro Sekunde und Hand oder das Spielen mehrerer Pianos gleichzeitig, wie das in der Vergangenheit bei der „Continuous Music“ des Wahl-Kanadiers so häufig der Fall war. Auch wenn sich hier die Noten gerne überschlagen oder übereinander herfallen, kaskadenhaft anschwellen, in Minimal-Music-artigen Obertönen entschweben und dann wieder herabsinken, steht die Stimmung jederzeit im Mittelpunkt. Am deutlichsten wird das mit dem Stück „A Warmer Place“, das so zart ist, dass man es Melnyk gar nicht zugetraut hätte. Hier klingt sein Spiel fast schon wie das vorsichtige Anschlagen der Tasten eines Nils Frahm auf seiner Platte „Felt“ und wird zusammengehalten von lang anhaltenden einzelnen Geigentönen. Wunderbar.

Wenn man überhaupt etwas an dieser wirklich schönen Platte beanstanden möchte, dann ist es die Tatsache, dass Melnyk zuweilen sehr die Tasten auf der rechten Seite seines Instruments bevorzugt. Wenn Broderick dann mit seiner Geige in ähnlichen Höhen entschwindet, wie mehrere Male im letzten Stück der Platte, „Le Miroir D’Amour“, dann nervt das nicht nur ein wenig, sondern wirkt wie ein überzuckerter Guss auf einem Sahnetörtchen. An manchen Tagen, wenn man mit den Werten eh schon im Keller ist, bekommt einem das vielleicht aber ganz gut. An den anderen darf man sich an den anderen so wundervollen Melodien dieser Platte satthören, die einen immer wieder neue Leckereien entdecken lässt.

Label: Erased Tapes | Kaufen

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