Rückblick: Das Sonic Acts Festival in Amsterdam

Foto von Sonic Acts FestivalDas audiovisuelle Liveset von Vessel und Pedro Maia auf dem Sonic Acts Festival in Amsterdam, Foto von Pieter Kers

“Everything is possible here” sagt die Cafémitarbeiterin mit einem routiniertem Lächeln, stellt den Café Americano mit der halben Portion Wasser auf den Tresen und ahnt nichts. Dabei hat sie gerade nichts weniger als die Mentalität der Stadt auf den Punkt gebracht. Einer Stadt, in der das Wort liberal noch kein allgegenwärtiges Schimpfwort für eine durchkapitalisierte Welt ist, sondern ein tolerantes und offenes Miteinander beschreibt. Einer Stadt, in der die Bus- und StraßenbahnfahrerInnen grundsätzlich von allen Fahrgästen gegrüßt werden. Einer Stadt, in der man auch in den slicksten Restaurants die Toilette benutzen kann, als seien menschliche Grundbedürfnisse nicht etwa ein verwertbares, mindestens ein Euro teures Gut und in der man bei der Kartenzahlung niemals mit dem paternalistischen Mantra „zuerst die Karte, dann den Pin und bestätigen bitte“ belehrt wird, als sei dies keine längst internalisierte Kulturtechnik.

Amsterdam – eine Stadt mit dem Kunst- und Musikfestival Sonic Acts, das sein nerdig-abstraktes Underground-Lineup nicht vor den hochoffiziellen Locations versteckt, als sei es für ihre Bewohner selbstverständlich, abgefahrene Noise-Musik in der besten Konzerthalle des Landes (Muziekgebouw) zu hören. Oder an einem späten Donnerstagabend zusammen mit hunderten Interessierten im renommierten Stedelijk Museum zu versuchen, dem via Skype übertragenen Vortrag des iranischen Philosophen Reza Negarestani (Pionier des „Spekulativen Realismus“) über die Notwendigkeit einer neuen Geophilosophie nach der Kopernikanischen Wende zu folgen.

„Zwei Dinge können nie gleichzeitig an einem Ort sein“, sagt Negarestani, nimmt einen nervösen Schluck aus dem Wasserglas und ahnt nichts. Dabei trifft die Aussage perfekt auf die fragile Architektur des Dancefloors zu, also jenem realutopischen Ort, an dem sich Menschen kurzzeitig von ihren gesellschaftlichen Zwängen befreien und in dem sich der eigene Körper stets mit den anderen anwesenden Körpern verständigen muss, zumindest, wenn er nicht mit ihnen kollidieren möchte.

Das Thema des Festivals ist das Anthropozän, also das vor einigen Jahren von Künstlern und klandestinen Wissenschaftlern proklamierten Menschenzeitalter, demzufolge kein Ort mehr auf diesem Planeten vom (zerstörerischen) Einfluss des Menschen unberührt ist. Hier sind Orte der kollektiven Freiheit und Überschreitung des Selbst wichtiger denn je. Denn insbesondere Clubs mit ihren massiven Soundsystemen, die den Körper für kurze Zeit in reine Resonanzkörper transformieren, sind immer auch Lektionen in Demut. Etwa vor der Begrenztheit des eigenen Wirkens, verbunden mit der Einsicht, dass es Größeres gibt als das eigene Ego.

Einige Stunden später im OT301, einem familiären, ehemals besetzten Haus im Westen der Stadt, synchronisieren sich hunderte, dicht aneinander gedrängte Körper mit dem Sound der Technokünstlerin Karen Gwyer, dem Drone-Dub-Trio Killing Sound oder dem Berliner Bassmusic-Produzenten M.E.S.H. Der Höhepunkt der Nacht war das audiovisuelle Liveset von Vessel und dem Visualkünstler Pedro Maia, dessen zwischen abstrakten Formen und traumwandlerischen Echtaufnahmen wechselnde Bewegtbilder für kurze Zeit ein Guckloch in eine andere, lautere, schönere, intensivere, von Sinnzwängen befreite Welt öffnen.

Weniger meditativ, aber dafür umso ekstatischer war der Samstagabend im legendären Paradiso, einer alten, zum Club umfunktionierten Kirche. Dort zeigten Ex-CAN-Drummer Jaki Liebezeit und Dub-Elektroniker Burnt Friedman, wie man den Fluss der Zeit in totale Gegenwart verwandelt. Eine Musik ohne Anfang und ohne Ende – wie ein Buch, das man in der Mitte aufschlägt, um ein paar Seiten zu lesen und dann wieder schließt. Ihr Konzert war auch eine gelungene Negation der Rock-Ästhetik: Liebezeit, der als menschgewordener Drumcomputer unablässig von einem komplexen Rhythmuspattern zum anderen wechselt, ohne den Körper zu bewegen und Friedman, der ähnlich versunken ins Leere starrt und seinem Maschinenpark im Sekundentakt neu gesampelte Sounds entlockt.

Ähnlich vereinnahmend ging es weiter mit Shackletons radikal-perkussiver Musik, die vom hypnotisierten Publikum mitten im Set spontan mit zweiminütigen Standing Ovations gewürdigt wurde. Um Ekstase, also das Rasen der Zeit, bei der die Wahrnehmung nur noch eine fragmentierte Momentaufnahme einer von Zukunft und Vergangenheit befreiten Gegenwart ist, ging es auch im letzten Set des Abends von Kode9. Der Hyperdub-Chef setzte mit einem bewusstseinserweiternden Jungle-Footwork-House-HipHop-Dubstep-Mix und mutigen Taktwechseln das passende Ausrufezeichen hinter ein Festival, das es in seiner professionellen wie unprätentiösen Form wohl nur da geben kann, wo „everything“ – zumindest fast – „possible“ ist.

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