Blumfeld – „L’Etat Et Moi“ (Zickzack / Big Cat Records)
Da zum Jahreswechsel traditionell wenig neue Musik veröffentlicht wird, nutzen wir die Chance, den Blick in die Vergangenheit zu richten: Statt neuer Langspieler stellen wir wegweisende Alben vor, die 2024 ein Jubiläum gefeiert haben. In dieser Woche ist es „L’Etat Et Moi“ von Blumfeld, das in diesem Jahr 30 Jahre alt geworden ist.
Wer über „L’Etat Et Moi“ schreiben möchte, muss über die Texte schreiben. Über die aus zahllosen Zitaten zusammengeknoteten Möbiusbänder, die Songschreiber und Sänger Jochen Distelmeyer zum temporären Schulsprecher der Hamburger Schule aufsteigen ließen. Die Referenzen beginnen schon beim auf Franz Kafka verweisenden Bandnamen Blumfeld. Und natürlich beim Albumtitel. Einer kapitalistischen Variation auf das absolutistische Bonmot des französischen Sonnenkönigs: „L’État, c’est moi.“ Nicht „der Staat bin ich“, sondern „Der Staat und ich“. Denn das Deutschland im Jahr 1994 wird laut Distelmeyer nicht mehr von pompösen Monarchen, sondern von einer perfideren, uns alle umschließenden und einkreisenden Kreatur regiert.
Über das diskursive Gewicht dieses Albums wurde bereits viel Wertvolles geschrieben (sehr lesenswert ist bspw. diese Retrospektive von Alex Struwe). Doch hier in diesem Beitrag soll es um etwas anderes gehen. Und zwar um die schlichte Tatsache, dass Distelmeyer ja auch noch Gitarre spielt. Und gemeinsam mit Bassist Eike Bohlken und Drummer André Rattay mit „L’Etat Et Moi“ eine der spannendsten Rock-Platten der 90er-Jahre geschaffen haben. Eine tief im US-amerikanischen Underground-Zeitgeist verwurzelte Zuspitzung von Shoegaze, Slacker-Alt-Folk und Noise-Rock- und Pop. Die musikalisch einen Großteil ihrer Hamburger Schulkamerad*innenschaft in den Staub tritt. Und auch 30 Jahre nach Veröffentlichung schlichtweg härter knallt als viele Punk-LPs.
Es ist einfach Rockmusik
„L’Etat Et Moi“ beginnt aber überhaupt nicht ruppig, sondern in tiefster Melancholie. In der sogenannten Hamburger Schule wurde viel über Trennungen und Einsamkeit gesungen, doch selten so schön wie in „Draußen auf Kaution“. Distelmeyers Text ist kitschig und ehrlich, ohne doppelten Boden: „Das Stechen im Kopf das Stechen im Herz / Treibt mich nur tiefer in den Kummer rein.“ Die Abwärtspirale ins Alleinsein wird von seiner Gitarre gespiegelt, die sich ebenso in melodischen Kreisbewegungen um Bohlkens Bass-Arpeggios dreht. Ein emotionales Riff, auf das viele Midwest-Emo-Bands stolz gewesen wären.
Im passend betitelten „Jet Set“ schalten Blumfeld anschließend einige Gänge höher. Rattays Snare poltert nach vorne, Gitarre und Bass peitschen perkussiv gegeneinander als wären sie Gang Of Four auf Amphetaminen. Distelmeyer vereint mit offenen Akkordstrukturen stets geschickt Lead- und Rhythmus-Gitarre, eindrucksvoll demonstriert in den vertrackt tanzenden Licks von „2 oder 3 Dinge, die ich von dir weiß“. Oder im konstant von oben nach unten und wieder zurückstürzenden „Eine eigene Geschichte“, in dem Bohlken durch seinen wunderbar ätzenden Walking-Bass auch mit seinen Muskeln spielen darf.
Bis zur Rückkopplung verstärkt
Wunderbar ätzend ist auch Bohlkens Mundharmonika-Solo, das den Spoken-Word-Shoegaze-Slowcore von „Sing Sing“ durchschneidet. Genau wie Distelmeyer mit seinen Texten gibt sich auch seine Band nie mit einfachen Antworten zufrieden. Auf „L’Etat Et Moi“ gibt es keine simplen Rocksongs, jeder Song wird von seltsamen Ideen verfremdet und verbessert. Der seltsamste von ihnen ist der „Hit“ des Albums: „Verstärker“. Ein Primal-Scream-esker Dance-Beat trifft auf ein angezerrtes Noise-Pop-Riff in strahlendem Dur, während Distelmeyer Sätze spricht, die sich sofort von selbst an die Innenseiten des Stammhirns kritzeln. „Jeder geschlosse Raum ist ein Sarg.“ Und dann wird der titelgebende Verstärker aufgerissen – und alles ist nur noch befreiender Lärm.
Nur das kunstvoll gezupfte Folk-Abschlussstück „You Make Me“ kommt geradeheraus daher, ohne Tricks, nur mit Stimme und Gitarre. Und ertönt so entwaffnend wie der Song, der das Album eröffnet hat. Kein Wunder, dass diese textschwere deutsche Platte Ende 1994 in Jahresbestenlisten britischer Musikmagazine landete. Das sollte ihnen mit den zarteren, poetischeren Nachfolge-Platten wie „Old Nobody“ nicht mehr passieren. Distelmeyers Texte auf „L’Etat Et Moi“ sind stark, doch die Musik von Blumfeld war hier noch stärker.
Veröffentlichung: 22. August 1994
Label: Zickzack / Big Cat Records