Frank Ocean – „Channel Orange“ (Album der Woche)

Cover des Albums „Channel Orange“ von Frank Ocean, das unser ByteFM Album der Woche ist.

Frank Ocean – „Channel Orange“ (Def Jam)

Da um den Jahreswechsel traditionell wenig neue Musik veröffentlicht wird, nutzen wir die Chance, den Blick nach hinten zu richten: Statt neuer Langspieler stellen wir wegweisende Alben vor, die 2022 ein Jubiläum gefeiert haben. In dieser Woche ist es „Channel Orange“ von Frank Ocean, das 2022 zehn Jahre alt geworden ist.

Während eine Horde von überdrehten Jugendlichen Fratzen schneidend in die Kamera rappt, steht Frank Ocean daneben. Der US-amerikanische Musiker wirkt in seinem schnieken weinroten Hemd etwas fehl am Platz. Sein Blick wandert nervös von links außen bis zum Boden. In der Hand hat er einen Softdrink, hinter dem er sich fast immer, wenn die hektisch zappelnde Kamera sein Profil erhascht, verstecken kann. Als er selbst für seine Strophe in den Fokus rückt, wirkt er deutlich selbstbewusster, verwandelt sich vom schüchternen kleinen in den erwachseneren großen Bruder der Rasselbande. Doch so ganz passt er auch dann nicht in diese Gruppe rein.

Herzschmerz & Sehnsucht

Diese Bilder stammen aus dem Video zu „Oldie“, einem 2012 veröffentlichten Posse-Cut des Odd-Future-Kollektivs. Ocean stach aus außerhalb dieses Videos aus der Gruppe hervor: Während seine Kollegen wie Domo Genesis, Mike G, Earl Sweatshirt und Tyler, The Creator damals noch konfrontativen Schock-Rap performten, spezialisierte er sich auf sanfte, verletzliche R&B-Musik. Auf seinem Debüt-Mixtape „Nostalgia Ultra“ sang er über Herzschmerz und der Sehnsucht nach alten, vergangenen Zeiten. Und das über Samples von Radiohead und The Eagles. Und damit hatte er – genau wie der Rest von Odd Future – immensen Erfolg: Erst 2011 luden ihn die (damaligen) Kronprinzen des HipHop, Kanye West und Jay-Z, als Feature-Gast auf ihr Album „Watch The Throne“ ein.

Das besagte „Oldie“-Video (und das begleitende letzte Crew-Mixtape „The OF Tape Vol. 2“) markiert den letzten vereinten Moment kurz bevor die Mitglieder der Odd-Future-Crew ihre eigenen, bemerkenswerten Wege einschlugen. Earl Sweatshirt veröffenlichte ein Jahr später sein Debütalbum „Doris“, mit dem seine Karriere als König des introvertierten Avantgarde-HipHop endgültig begann. Von Tyler, The Creators sexistisch-homophoben Provokationen ist heute (spätestens seit seinen gefühlvollen, erstaunlich queeren LPs „Flower Boy“ und „Igor“) nicht viel übrig geblieben. Syd, ebenfalls im Hintergrund des Clips zu erkennen, sollte mit ihrer Band The Internet ebenfalls kurze Zeit später zum Star werden, der mit Beyoncé zusammenarbeitet. Und Frank Ocean veröffentlichte im Juli 2012, nur wenige Monate nach „Oldie“, einen der absoluten Meilensteine der modernen Pop-Musik: sein Debütalbum „Channel Orange“.

Mit dem silbernen Löffel im Maul

Was Bret Easton Ellis’ Debütroman „Less Than Zero“ für die reiche, kokaintaube Jugend des Los Angeles der 80er-Jahre war, ist „Channel Orange“ für das von Designer-Pillen und Hustensaft betäubte Äquivalent der Zehner-Jahre. Eine dekadente Einsamkeit zieht sich durch die LP. Ocean croont in „Sweet Life“ vom domestizierten Paradies, von Palmen und Pools. „You’ve had a landscaper and a house keeper since you were born / The starshine always kept you warm / So why see the world, when you got the beach?“ In „Lost“ ist seine Dope kochende Liebe so weit ihrem Lifestyle erlegen, dass es für sie egal ist, ob sie in Miami, Tokio, L.A. oder Indien ist. Die „Super Rich Kids“ im gleichnamigen Song fahren high mit Papas Jaguar durch die Straßen und warten mit dem silbernen Löffel im Maul auf den Crash.

Die zahlreichen an Männer gerichteten Liebeslieder des Albums, wie bspw. „Bad Religion“, sorgten 2012 für allerlei Online-Getratsche über Oceans Sexualität – was er kurz nach der Veröffentlichung mit seinem Coming-out als Bisexueller auch bestätigte (dem eingangs erwähnten „Oldie“ schummelte er noch die Zeile „I’m high and I’m bi, wait, I mean I’m straight“ unter). Doch darf man Ocean nie mit einem puren Autobiografen verwechseln. Auf „Channel Orange“ ist er vielmehr ein vielseitiger Erzähler abgründiger Geschichten, auch fernab seiner eigenen Perspektiven: „Crack Rock“ ist ein brutales Portrait eines von seiner Familie verstoßenen Crack-Abhängigen. Und das im wahrsten Sinne des Wortes epische „Pyramids“ spannt einen Bogen von Kleopatra und den titelgebenden Pyramiden bis zu heruntergekommenen Strip-Clubs L.A.s.

Analoger Soul und Electro-House-Fieberträume

Doch egal ob Crackhead, Königin oder „Rich Kid“ – alle sehnen sich nach Liebe. Und von der gibt es auf „Channel Orange“ zuhauf. Das Album beginnt schließlich mit „Thinking About You“, einem der zartesten Lovesongs seiner Generation. „Do you not think so far ahead? / ‚Cause I been thinkin‘ bout forever“, singt Ocean in sehnsüchtigem Falsett über ein weiches Bett aus Synthesizern und Streichern. „Sierra Leone“ und „Pilot Jones“ sind bittersüße Erinnerungen an junge Beziehungen. In „Bad Religion“ wird aus einem Taxi ein Beichtstuhl – und Ocean schüttet seinem Fahrer sein Herz aus.

Genauso komplex wie die Texte ist die Musik von „Channel Orange“. Das Spektrum reicht vom synthetischen R&B von „Thinking About You“ und „Sierra Leone“ bis zum analogen Soul von „Sweet Life“ und dem knochentrocken groovenden Funk von „Monks“. „Lost“ ist ein genauso kompakter wie perfekter Pop-Song. „Pink Matter“ beginnt als minimalistische Ballade, bis am Ende die exakt neben dem Beat tanzende E-Gitarre von Gast-Musiker (und -Rapper) André 3000 hereinkracht.

Und über allem thront das zehnminütige, stetig mutierende „Pyramids“, mehr eine kleine Sinfonie als ein Song. Was als R&B-Glanzstück beginnt, entpuppt sich als pulsierender Electro-House-Fiebertraum, bis zum Ende ein Half-Time-Breakdown mit Gitarrensolo eine ganz neue Klangwelt offenbart. Auch zehn Jahre später kann man sich immer noch tief in diesem Song – und dem Album verlieren.

Veröffentlichung: 10. Juli 2012
Label: Def Jam

Bild mit Text: „Ja ich will Radiokultur unterstützen“ / „Freunde von ByteFM“

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