Jamie xx – „In Waves“ (Album der Woche)

Von ByteFM Redaktion, 23. September 2024

Cover des Albums „In Waves“ von Jamie xx, das unser ByteFM Album der Woche ist.

Jamie xx – „In Waves“ (Young)

Zwei Fäden durchwirken „In Waves“, das zweite Soloalbum von Jamie xx: Melancholie und Gemeinschaft. Erstere zieht sich im Prinzip ohnehin durch das gesamte Schaffen von James Thomas Smith. Als er etwa 2009 mit seiner Band The xx das selbstbetitelte erste Album herausbrachte, war eine gedrückte, verhuschte Stimmung die augenfälligste Zutat. Neben Smiths eigentümlicher, atmosphärischer Produktion, versteht sich. Von seinem Image als Heilsbringer der elektronischen Tanzmusik war er auch drei Jahre später auf „Coexist“ noch weit entfernt, wenngleich zwei, drei Stücke vorsichtig in Richtung Club schielten. Smiths Solo-Handschrift, die wir heute kennen, kristallisierte sich so richtig auf „We’re New Here“ heraus, seiner Remix-LP des letzten Albums des sterbenden Gil Scott-Heron. Dessen Vermächtnis begleitet Jamie xx mit Beats und Sounds, die zwar in der Clubkultur wurzeln, aber ohne Dancefloor-Funktionalität als melancholisch gebrochener Abglanz einer sorgloseren Vergangenheit daherkommen.

Auch 2015, auf seinem ersten wirklich eigenen Album „In Colour“, lieferte Smith kein straightes Tanzmusik-Album. Nicht, dass er nicht gut in der Tanzmusikproduktion gewesen wäre. Doch während seine Remixe für Radiohead, Florence + The Machine oder auch seine eigene Band innovative Floorshaker waren, regierten wieder vor allem die ausgehöhlten und grüblerisch aufgefüllten Echos von Clubnächten. In seinem Post-Dubstep- und Future-Garage-Ansatz ähnelt er eher Acts wie Four Tet oder Burial und spielt auch in derselben Liga. Fünf Jahre lang hatte Smith an dem Album gearbeitet, nicht zuletzt, weil er einen Klassiker schaffen wollte. Einen Klassiker, der klassisch klingt, weil er nicht eine Ära repräsentiert, sondern für sich selbst steht. Das ist ihm gelungen, wenn auch in einem zermürbenden Prozess. Bis zur nächsten LP, unserem Album der Woche, vergingen sogar neun Jahre.

Versöhnlich und clubbig

Nach der Tour zum dritten The-xx-Album „I See You“ (2017) glaubte Smith, im Prinzip schon den Plan für sein nächstes Jamie-xx-Album im Kopf zu haben. „Ich produzierte eine Menge Musik, in der Richtung, wie ich mir das Album vorstellte, und es war einfach nur langweilig. Zwar gefiel sie mir, aber ich sah keinen Grund, warum andere Leute sie hören sollten“, räumt der Londoner ein. „Danach habe ich eine Weile gebraucht, um zu überlegen, was ich mit dem Material anfangen sollte.“ Inspiration fand er in den moralisch fragwürdigen illegalen Raves, die er während der Lockdown-Zeit beobachtete. Gar nicht wegen der Musik, die er oft furchtbar fand, sondern wegen des Gemeinschaftsgefühls. Zur gleichen Zeit bat ihn die BBC um einen Mix, der zur Initialzündung für „In Waves“ wurde. Die Radio-Verbindung mit Menschen, die alle in der gleichen isolierten Situation wie er waren, entfachte Smiths Drive für sein versöhnlichstes und clubbigstes Album.

Seine Rückkehr nach einem knappen Jahrzehnt zelebriert Jamie xx mit dem zweiminütigen Opener „Wanna“. Als sehnsüchtige Fläche mit dem Gesangssample „Never letting go“ aus einem Tina-Moore-Remix schwillt das Stück dramatisch an und steuert auf den Drop zu. Der erfolgt in Form des Post-Garage-Bangers „Treat Each Other Right“. Erneut spiegelt hier die Sample-Wahl Jamies Vorliebe für ältere Musik während der frühen Lockdown-Tage. „All we’ve got to do is treat each other right“ ist die liebevolle Message, der Soul-Nummer „Oh My Love“ von Almeta Lattimore entliehen. Zumindest eine hypothetische Harmonie feiert das Stück, mit fragenden Untertönen zwar, aber für Smiths Verhältnisse ist das nachgerade euphorisch. Etwas mehr Sehnsucht bringen Jamies Bandkolleg*innen Romy Madley Croft und Oliver Sim ins tiefbassige „Waited All Night“. An den geballten 2-Step-Modernismus schließt mit der Classic-Garage-House-Hymne „Baddy On The Floor“ (feat. Honey Dijon) der größte und unbeschwerteste Banger des Albums an.

Achtsamkeit in Heim und Club

Es gibt noch mehr explizite Tanzflächen-Kracher auf dem Album, etwa „Still Summer“, „Life“ (feat. Robyn) oder „All You Children“ mit Smiths alten Helden The Avalanches. Doch der Albumtitel bezieht sich nicht nur auf Schallwellen und Club-Dramaturgie. Jamie xx hat auch gelernt, besser mit dem Umstand umzugehen, dass das Leben Höhen und Tiefen besitzt. So begegnet er dem Positiven mit immer weniger hinterfragender Vorsicht umarmt es sogar gelegentlich. Erklärtermaßen verarbeitet Smith auf dem Album kollektive „lebensverändernde und weltverändernde Ereignisse. Diese Wellen, die wir alle gemeinsam und allein erlebt haben.“ Daraus wollte er etwas schaffen, „das Spaß macht und zugleich fröhlich und introspektiv ist. Die besten Momente auf einer Tanzfläche sind für mich normalerweise genau das.“

An diesem Unterfangen beteiligen sich, um alle Gäste zu nennen, auch Kelsey Lu, John Glacier und Panda Bear (alle in „Dafodil“). Dazu kommen sinnstiftende Samples, die innovative Dance-Tracks mit rarer Emotionalität aufladen. Oder auch mit guten Ratschlägen wie in „Breather“. Darin gibt die Yoga-Lehrerin, mit deren Videos sich Smith die Pandemiezeit vertrieben hat, Atem- und Achtsamkeitsanleitungen, die im Alltag wie im Club funktionieren. Selbstredend hat sich ein dergestalt selbstkritischer Künstler wie Jamie xx bei seinen DJ-Sets der Tauglichkeit seines neuen Materials versichert. Was nun erscheint, ist die kollektiverprobte Reise durchs kollektive Auf und Ab der vergangenen Jahre. Dabei lädt das Album zu neuen Ufern ein, die gesamte Tanzmusikhistorie im Gepäck. Und ihm gelingt das Kunststück, mit der richtigen Balance zwischen Funktionalität und Emotion zu Hause so gut wie im Club zu funktionieren.

Veröffentlichung: 20. September 2024
Label: Young

Bild mit Text: Förderverein „Freunde von ByteFM“

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