Kit Sebastian – „New Internationale“ (Brainfeeder)
Seit seiner Gründung im Jahr 2018 perfektionierte das in London ansässige Duo Kit Sebastian einen groovy Sound-Cocktail aus anatolischer Psychedelia, brasilianischer Tropicália und französischem Pop, der perfekt zum kosmopoliten Funk-Zeitgeist von Acts wie Khruangbin oder Altin Gün passt. Eine Mischung, die sehr gut ankommt: Kit-Sebastian-Songs laufen in H&M-Playlisten und werden für Netflix-Produktionen gesynct. Die Stücke von Merve Erdem und Kit Martin sind wohl kuratierte Produktionen, die bei all den Details und komplexen Einflüssen stets unbekümmert im Hintergrund laufen können. Und dann wirft man einen genaueren Blick auf die Texte ihres neuen, dritten Albums – und der Cocktail bleibt im Halse stecken.
Doch bleiben wir bei der Musik. Rein akustisch ist „New Internationale“, ihr Debüt auf dem Label Brainfeeder, keine Revolution im Kit-Sebastian-Universum. Martins fast ausschließlich (nur mit der Unterstützung weniger Session-Musiker*innen) selbst gewebte Klangteppiche sind so liebevoll ausstaffiert wie eh und je: Im Opener „Faust“ gehen mikrotonale Oud-Riffs, weich pumpende Basslines und psychedelische Synthesizer Hand in Hand, mit der Leichtigkeit, die man von dieser Band gewohnt ist. Erdem singt mit weicher Stimme leicht seltsame Zeilen von faustischen Päkten und verlorenen Seelen, doch ansonsten ist alles beim Alten. „Camouflage“ driftet ein wenig in Richtung Chanson, mit jazzigen Akkorden und Bläsersätzen. Auch die schnelleren Songs, wie das von Conga-Polyrhythmik angetriebene „Bul Bul Bul“, tänzeln verspielt.
Warme Grooves & tiefe Abgründe
Doch spätestens beim vierten Song, „Göç / Me“, fällt auf: Hier ist irgendetwas faul. Musikalisch handelt es sich um verschmitzten Retro-Soul, doch inhaltlich sind andere Mächte am Werk. Der Titel bedeutet, aus dem Türkischen übersetzt, in etwa „Migrier / Nicht“ – und in der Tat handelt es sich hier quasi um eine Anti-Migrationshymne. Aber nicht aus Perspektive von Rechtspopulist*innen, sondern aus migrantischem Blickwinkel. „In meinem Körper ist genug Pessimismus für alle / Während ich langsam an meinen Flammen nippe“, lautet eine Übersetzung einer ihrer Zeilen. Anderswo im Song singt Erdem von Selbstmordattentaten im Fernsehen und von leeren Mitleidsbekundungen. Von zunehmender Abstumpfung angesichts des immer größer werdenden Hasses. Die Musik von Kit Sebastian mag anders anmuten – doch ihre Songs sind voller Verzweiflung und Wut.
Auch in „Metropolis“ singt die in Istanbul geborene Erdem von einer Flucht in eine fremde Großstadt, die Hoffnung verspricht aber im kalten Dickicht aus Beton, Glas und Ziegelsteinen die Sonne verdunkelt: „Blue sky and the sun are gone / Desolation lights the dawn.“ Begleitet wird dieser Text von swingenden Percussions und funkelnden Piano-Figuren. Nur selten wird auf „New Internationale“ die textliche Bitterkeit von der Musik gespiegelt. Wie im Finale des inhaltlich vor Herzschmerz nur so triefenden „The Kiss“, das am Ende in chaotischen Flammen aufgeht. Oder in „Odyssey“, das immer wieder in leichte Dissonanz verfällt. Doch der Großteil dieser LP lebt vom Kontrast. Und kann in dieser Spannung bis zum Schluss überraschen: „Is this another adamant march toward catastrophe / Or an overture to the age of revolutionary action?“, lauten die letzten Zeilen von „New Internationale“. Ein erstaunlich revolutionärer Aufruf zum Ende eines erstaunlich vielschichtigen Albums. In ihrer Gänze ist diese Musik viel zu spannend, um sie im Hintergrund verweilen zu lassen.
Veröffentlichung: 27. September 2024
Label: Brainfeeder