Meshell Ndegeocello – „No More Water: The Gospel Of James Baldwin“ (Blue Note Records)
Die Worte von James Baldwin änderten Meshell Ndegeocellos Leben. So sagt es die US-Sängerin und -Bassistin in einem Interview mit dem US-Radiosender NPR. Seine Essay-Sammlung „Nach der Flut das Feuer“ aus dem Jahr 1963 trug sie ein ganzes Jahr mit sich herum. Im ersten Abschnitt dieses Werks, „My Dungeon Shook“, schreibt Baldwin einen Brief an seinen Neffen. In dem er den Wunsch äußert, der systemischen rassistischen Unterdrückung der USA der 60er-Jahre nicht mit purem Hass zu entgegnen. Sondern mit Mitgefühl und Zusammenhalt mit seinen Schwarzen Mitmenschen. Ndegeocello fand in diesem Text intergenerationale Heilung, für ihre Wut gegenüber ihren Eltern. „Wenn Du verstehst, von wo Du herkommst, gibt es kein Limit dafür, wohin Du gehen kannst“, schreibt Baldwin. Und Ndegeocello nimmt sich diese Worte zu Herzen – für ihr bisher ambitioniertestes Album.
Seit einem Jahrzehnt befasst sich die 55-Jährige nun mit Baldwins Schaffen – zunächst in Form des Musical-Projekts „Can I Get A Witness? The Gospel Of James Baldwin“, das 2016 in New York Premiere feierte. Diese Arbeit fruchtet nun in „No More Water – The Gospel Of James Baldwin“, ihrer ersten neuen LP seit ihrem 2023er, mit einem Grammy Award ausgezeichneten Werk „The Omnichord Real Book“. Ihr neues Doppelalbum ist nicht nur ein Tribut an den titelgebenden Autoren. Es ist, in ihren Worten, ein ganzer Gottesdienst. Zu Ehren einer der wichtigsten Stimmen der Bürgerrechtsbewegung, deren Geburtstag sich am 2. August 2024 zum 100. Mal gejährt hat und deren Worte über Rassismus, Widerstand, Vergebung, Spiritualität und Sexualität bis heute nachhallen.
Dieser Gottesdienst beginnt an einem emotionalen Tiefpunkt: „I’ll be bleeding as you you bake in the sun“, singt Ndegeocello mit tiefer Stimme in „Travel“, die suizidalen Motive der leidenden Protagonisten in Baldwins Œuvre aufgreifend. Dieser Schmerz wird im nachfolgenden, sich auf seinen Debütroman beziehenden „In The Mountain“ transformiert: Ndegeocello träumt hier von einer blutlosen Revolution, in der gebaut und nicht zerstört wird.
James Baldwin und andere Heilige
In den „Baldwin Manifestos I & II“ erklingen seine Worte als direkte Zitate, nur mit minimalistischer musikalischer Begleitung vorgetragen von der Spoken-Word-Künstlerin und Aktivistin Staceyann Chin. Eine weitere wichtige Stimme dieses Gemeinschaftswerkes, die in „Raise The Roof“ all ihre Wut über den modernen Rassismus herauslässt: „These men who where killed are no dominoes“, spricht Chin. „We are moving backward through history.“ Und listet Namen von Opfern rassistischer Polizeigewalt auf.
Diese Wut mündet in der stillen Trauer von „The Price Of The Ticket“, ein Folk-Song aus der Perspektive einer unschuldigen Protagonistin, die von Polizeibeamten mit vorgehaltener Waffe bedroht wird. „Lord give me wings to fly / Before they shoot me down, and I die“, singt Ndegecello über das sanfte Gitarrenpicking von Co-Produzent Chris Bruce. Im anschließenden „What Did I Do?“ spielt sie eine melancholische Bass-Figur und überlässt Gastsänger Justin Hicks die Bühne, der mit seinem herzzerreißenden Falsett die titelgebende, unmögliche Frage stellt.
Während „No More Water …“ zu Beginn mehr an eine Beerdigung erinnert, zieht zur Hälfte des Doppelalbums eine andere Stimmung ein: Hoffnung. „Pride I & II“ ist eine ausgelassen groovende Afrobeat-Suite, in der Ndegeocello Parallelen zwischen Baldwins Biografie und ihrem eigenen Coming-out zieht. Und Baldwin ist nicht der Einzige, der in dieser Messe geehrt wird: Statt vor einem ominösen christlichen „Lord“ niederzuknien, wird in „Thus Sayeth The Lorde“ die feministische Autorin Audre Lorde gefeiert. „Your silence will not protect you“, zitiert Chin. „So it is better to speak / Remembering we were never meant to survive.“ So ist „No More Water …“ mehr als nur ein Gottesdienst zu Ehren James Baldwins. Ndegeocello vereint verschiedene Stimmen des afroamerikanischen Widerstands zu einer generationsübergreifenden Feier ihrer Vision.
Veröffentlichung: 2. August 2024
Label: Blue Note Records