Trompeter, Jazz-Enthusiast, Journalist, Multitalent: Vor 70 Jahren führte Boris Vian erstmalig das Lied „Le déserteur“ auf (Foto: Photomaton Archives Cohérie Boris Vian (propriétaire du cliché), CC BY-SA 3.0, via Wikimedia Commons)
Am 4. Januar 1955 betrat das künstlerische Multitalent Boris Vian die Bühne der Pariser Konzerthalle Les Trois Baudets, um sein Lied „Le déserteur“ zum ersten Mal zu singen. Vian hatte zwar schon als Jazztrompeter öffentliche Auftritte absolviert und in Filmen mitgespielt. Aber ohne sein Instrument musste er seine Schüchternheit überwinden und wirkte anfangs introvertiert und steif. Seine kurzen und sarkastischen Bemerkungen während des Auftritts trugen aber dazu bei, dass das Lied beim Publikum Anklang fand.
Vian trug hier bereits die dritte Version seines Chansons vor, das in jener Zeit immensen politischen Sprengstoff barg. Der Song wurde in Frankreich im öffentlichen Radio zensiert und Vian bei späteren Auftritten massiv angefeindet. In den 60er-Jahren entwickelte sich das Lied zu einer internationalen Antikriegshymne, die über die westdeutsche, pazifistische Ostermarschbewegung 1964 in die USA gelangte und dort während der Proteste gegen den Vietnamkrieg populär wurde. Künstler*innen wie Juliette Greco, Dieter Süverkrüp, Peter, Paul and Mary, Joan Baez, Wolf Biermann und Bruce Springsteen interpretierten dieses Lied, das seine Aktualität bis heute nicht verloren hat.
„Weigere Dich zu gehorchen“
Vian komponierte das Chanson zusammen mit dem ehemaligen US-Soldaten Harold Berg im Februar 1954 in einer politisch aufgeheizten Lage. Die französische Armee kämpfte seit 1946 im Ersten Indochinakrieg gegen die kommunistisch dominierte Vietminh, die ein unabhängiges Vietnam anstrebte. Frankreich wollte hingegen seine Kolonie nicht hergeben. Vian, der ein entschiedener Gegner dieses Waffengangs war, traf in seiner Ur-Version mit dem subversiven Text einen Nerv.
In dem Lied teilt ein Mann dem Staatspräsidenten per Brief unverblümt mit, dass er einem militärischen Einberufungsbefehl nicht Folge leisten werde. Er sei nicht auf der „Erde, um arme Menschen zu töten“. Er schildert seine persönlichen Motive, die ihn zur Kriegsdienstverweigerung führten und fordert sogar explizit zur Desertion auf: „Weigere Dich zu gehorchen. Weigere Dich, es zu tun. Ziehen Sie nicht in den Krieg. Weigere Dich zu gehen.“ Und der Briefeschreiber demonstriert seine Wehrhaftigkeit in den letzten Sätzen des Liedes: „Sagen Sie Ihren Gendarmen Bescheid. Dass ich Waffen mitnehme. Und dass ich schießen kann.“
Kontroverser Trompeter, Jazz-Enthusiast, Journalist
Hier zeigte sich erneut, dass Vian seinen eigenen Weg ging. Der Spross aus wohlhabenden Haus hatte schon einige künstlerische Häutungen durchlebt. Der ausgebildete Ingenieur war einer der umtriebigsten und facettenreichsten Intellektuellen der Nachkriegszeit. Der herzkranke Vian war Trompeter, Jazz-Enthusiast, Journalist und machte schon früh erste schriftstellerische Gehversuche. Sein 1946 unter Pseudonym geschriebener Roman „Ich werde auf Eure Gräber spucken“ sorgte für einen Skandal. Der vor Gewalt- und Sexszenen strotzende Krimi wurde zuerst ein Bestseller und dann 1949 wegen seines angeblich pornografischen und unmoralischen Inhalts verboten und Vian wegen Verstoßes gegen die guten Sitten verurteilt.
Da Vian selbst noch keine Erfahrungen als Chansonnier hatte, kontaktierte er potenzielle Interpret*innen, die aber wegen des Song-Inhalts um ihre Karrieren fürchteten und abwinkten. Nur der bekannte Schauspieler und Sänger Marcel Mouloudji signalisierte seine Zustimmung. Der überzeugte Pazifist verlangte aber einige Änderungen, die dann gemeinsam mit Vian erarbeitet, erfolgten. In Mouloudjis Fassung wurde der Präsident nicht mehr direkt angesprochen, sondern nur noch eine abstrakte Obrigkeit. Auch verschwand der Aufruf zur Fahnenflucht und die letzten Sätze wurden entschärft: „Warnen Sie Ihre Polizei. Dass ich keine Waffen haben werde. Und dass sie schießen können.“
Mit dieser Version trat Mouloudji am 7. Mai 1954 im Pariser Théâtre de l’Œuvre zum ersten Mal live auf. Just an diesem Tag erlitt Frankreich eine vernichtende militärische Niederlage in der Schlacht um die Dschungelfestung bei Dien Bien Phu. Bald darauf fand die französische Kolonialherrschaft in Indochina ihr Ende. Kurz darauf nahm Mouloudji das Lied auf, was den Unmut der Zensoren angesichts der eben der erlittenen Niederlage weckte. Die Ausstrahlung im öffentlichen Rundfunk wurde untersagt.
Die politische Wucht des Chansons sollte sich noch weiter steigern. Am 1. November 1954 brach der Algerienkrieg aus. Frankreich hatte die algerische Bevölkerungsmehrheit in seiner Kolonie lange wirtschaftlich benachteiligt und ihnen wichtige Bürgerrechte vorenthalten, was sich immer öfter in Protesten entlud, die das französische Militär lange niederschlagen konnte. Jetzt aber flammten die Unruhen in mehreren Landesteilen auf, was sich zu einem mehrjährigen Befreiungskrieg für die Unabhängigkeit des Landes entwickelte. Die französischen Truppen wurden sukzessiv massiv aufgestockt. Während in Indochina noch Freiwillige und Berufssoldaten kämpften, kamen hier verstärkt Wehrpflichtige zum Einsatz. Insgesamt wurden bis zum Ende des Krieges 1962 rund 1,5 Millionen junge Franzosen nach Algerien geschickt, um gegen die heimischen Guerillakämpfer vorzugehen. Ein schmutziger Krieg, in dem Folter, Massenfestnahmen und Hinrichtungen durch französische Soldaten üblich waren. Aber auch der brutale Kampf der Aufständischen mit Anschlägen und Hinterhalten versetzte viele der französischen Kombattanten in Angst und Schrecken.
Vians Lied wurde von nationalistischen Kreisen als defätistisch und unpatriotisch verunglimpft und galt als Gefahr für die Moral der Truppe. In Ermangelung von willigen Sänger*innen nahm Vian ab Herbst 1954 Gesangsunterricht und erklomm auch durch die Ermutigung von Jacques Canetti, dem Gründer des Les Trois Baudets, im Januar 1955 die Bühne und führte „Le déserteur“ bis Juli 1955 hier auf. Vian hatte den Schluss seiner ersten Version durch den Mouloudjis ersetzt, den Rest des Textes aber beibehalten.
Internationale Friedenshymne
Vom 23. Juli 1955 bis Ende August ging er auf Konzertreise durch französische Städte, wo ihm die Zuschauer*innen nicht immer gewogen waren. Im nordwestfranzösischen Dinard störten Veteranen seinen Auftritt störten und bedrohten ihn.
Im damaligen aufgeheizten Klima war es schon vor den Auftritten für Vian zunehmend komplizierter geworden, einen Verlag für sein Lied zu finden. Der interessierte Beuscher-Verlag wünschte textliche Änderungen: „Ich möchte Sie bitten, einige Passagen zu ändern, die mir übertrieben erscheinen.“ Vian ging nicht darauf ein und nachdem sein Album „Chansons Possibles Et Impossibles“ mit dem „Déserteur“ im Januar 1956 bei Philips erschienen war, wurde die Ausstrahlung im Radio prompt verboten und der Vertrieb des Albums untersagt. Von der Platte wurden sowieso nur wenige hundert Exemplare gepresst, sodass der Verbreitung des seinerzeit gefährlichen Stoffs natürliche Grenzen gesetzt waren.
Das Ausstrahlungsverbot wurde erst nach dem Ende des Algerienkriegs 1962 aufgehoben. Dort hatte das Lied aber bei einigen Soldaten seine subversive Kraft entfalten können, was vom Militär sanktioniert wurde: Wer dabei ertappt wurde, das Lied zu singen, wurde mit einer mehrwöchigen Gefängnisstrafe bestraft.
Die Popularität von „Le déserteur“ steigerte sich mit den Jahren, und das Lied entwickelte sich zu einer internationalen Friedenshymne. Über Frankreich und die Friedensbewegung der Bundesrepublik gelangte das Chanson in die USA, wo es während des Vietnamkrieges und später im Irak-Krieg zu einem Protestsong wurde. Boris Vian, der Mann mit den vielen Eigenschaften, erlebte den Siegeszug seines antimilitaristischen Liedes, das er sowieso als „pro-zivil“ bezeichnete, nicht mehr. Er starb 1959 mit 39 Jahren – bei der Film-Voraufführung von „Ich werde auf Eure Gräber spucken“.
Diskussionen
1 KommentareChappuis
Jan 5, 2025Article très clair sur la destinée de cette chanson, encore étudiée avec mes élèves en France.