Die 30 besten Dreampop-Alben aller Zeiten

Foto einer schlafenden Robbe als Symbolbild für Dreampop

Auch dieses Wesen könnte gerade von sanften Rhythmen und halligen Gitarren träumen

Jeder Mensch träumt anders. Das ist erst einmal eine relativ flache Aussage, aber für die Popmusik ist sie trotzdem sehr relevant. Eine Genre-Bezeichnung, über die man als musikliebender Mensch des Öfteren stolpert, ist Dreampop. Dieses Wort steht im popmusikalischen Volksmund für eine ziemlich klar definierte Ästhetik: verhallter Gesang, sanfte Rhythmen. Und doch gestaltet sich die Realität des Dreampops als extrem ungreifbar, genau wie das Träumen an sich. Die Grenzen des Genres sind extrem fluide: Es beinhaltet die zartesten Momente des Post-Punk, die pastellfarbenen Schattierungen des Synth-Pop, die poppigsten Momente des Ambient.

Diese Ungreifbarkeit macht Dreampop zu einem höchst interessanten Phänomen. Musikhistorisch wurde er zum ersten Mal in den späten 80er-Jahren etabliert, als Überbegriff für die maximal verträumte Shoegaze-Szene. Mittlerweile hat er ein kleines Eigenleben entwickelt. Im Jahr 2021 kann so ziemlich alles Dreampop sein, egal ob im Wohnzimmer oder im High-End-Studio produziert, ob mit Laptop programmiert oder auf dem Steinway-Flügel komponiert. Vielleicht ist es die zutiefst subjektive Natur des Träumens, die dafür sorgt, dass bei all diesen unterschiedlichen musikalischen Elementen dem Publikum immer sofort klar ist, ob es sich hier um Dreampop handelt oder nicht. Wie gesagt, jeder Mensch träumt anders. Doch vor allem träumt jeder Mensch. Das hier sind unsere 30 besten Dreampop-Alben.

The Beach Boys – „Sunflower“ (1970)

Albumcover von The Beach Boys – „Sunflower“, eines der besten Dreampop-Alben aller Zeiten

Inmitten von „Sunflower“, dem 16. Studioalbum von The Beach Boys, findet sich die Geburtsstunde des Dreampop. Die US-amerikanische Surf- und Psych-Rock-Institution verfolgte bereits auf Vorgänger-LPs wie „Pet Sounds“ und „Smile“ schon eine verträumte Ästhetik. Doch „All I Wanna Do“ setzt dem eine Krone auf. Mit 50 Jahren Abstand ist es fast schockierend, wie sehr dieser Song dem heutigen Dreampop-Ideal entspricht. Hal Blaines Drums klingen fast schon wie ein Drumcomputer, die Gitarren klingen shoegazig ausgewaschen, der Moog-Synthesizer wabert durch den Klangraum, als wäre man in den späten 80er-Jahren. Nur die extrem Beach-Boys-esken Gesangsharmonien verraten den Ursprung dieses Songs. Mal wieder war diese Band ihrer Zeit meilenweit voraus.

Brian Eno – „Another Green World“ (1975)

Albumcover von Brian Eno – „Another Green World“, eines der besten Dreampop-Alben aller Zeiten

Die frühe Solo-Diskografie von Brian Eno hat zwei distinktive Pole: den expressiven Art-Pop seines Debüts „Here Come The Warm Jets“ und die vollkommene Abstraktion seines Ambient-Meilensteins „Music For Airports“. Genau in der Mitte dieser beiden Extreme lässt sich der Dreampop verorten – und auch Enos dritte LP „Another Green World“. Besonders die wortlosen Stücke erstrecken sind in schwereloser Schönheit: Songs wie das von Casio-Drums und Synthesizer-Flächen angetriebene „The Big Ship“ könnten problemlos als Beach-House-Instrumentals durchgehen.

The Durutti Column – „The Return Of The Durutti Column“ (1980)

Albumcover von The Durutti Column – „The Return Of The Durutti Column“

Auch „The Return Of The Durutti Column“ schlägt in eine ähnliche Kerbe des frühen Dreampops. Das Debüt der britischen Art-Pop-Band bietet einen Kontrast aus formlosen Strahlen und zarten Rhythmen. Bei den oszillierenden Gitarren-Figuren des Openers „Sketch For Summer“ weiß man nicht, wo das Instrument aufhört und das Vogelgezwitscher anfängt. Ein Album, das komplett den Regeln des Tagträumens unterliegt.

Felt – „Crumbling The Antiseptic Beauty“ (1982)

Albumcover von Felt – „Crumbling The Antiseptic Beauty“, eines der besten Dreampop-Alben aller Zeiten

Felt werden generell dem Post-Punk zugeordnet. Doch während andere Genre-Kollegen wie Joy Division oder The Cure menschliche und musikalische Abgründe ausloteten, hatte die Band aus Warwickshire eine andere Ästhetik vor Augen: pure Schönheit. Die Songs ihres Debüts „Crumbling The Antiseptic Beauty“ kommen mit wenigen Akkorden aus, der Fokus liegt auf den Melodien. Und die klingen wie aus flüssigem Gold. Vom instrumentalen Opener „Evergreen Daze“ über die Sonnenaufgangsmusik von „Cathedral“ bis zum ätherischen Abschluss „Templeroy“ demonstrieren Felt die verhallte Verträumtheit, die nur wenige Jahre später Dreampop genannt werden sollte.

My Bloody Valentine – „Isn’t Anything“ (1988)

Albumcover von My Bloody Valentine – „Isn’t Anything“, eines der besten Dreampop-Alben aller Zeiten
Shoegaze ist ein widersprüchliches Genre: einerseits sanft und zart, andererseits extrem Laut. My Bloody Valentine sind die quintessentielle Band dieser auf komplexen Gitarren-Effektketten basierenden Dreampop-Spielart. Im Vergleich zu ihrem Opus magnum „Loveless“ schlägt das Debüt der Briten „Isn‘t Anything“ deutlich mehr in traditionellere Dreampop-Gefilde aus, die Gitarren sind nicht ganz so verzerrt, die Lautstärke nicht ganz so erdrückend. Die eng verschlungenen Harmonien von Kevin Shields und Belinda Butcher sind der Fokus dieses Albums – und überstrahlen in ihrer verträumten Schönheit auch die lautesten Momente dieser LP.

Galaxie 500 – „On Fire“ (1989)

Albumcover von Galaxie 500 – „On Fire“

Spätestens im Jahr 1989 beginnt die absolute Hochphase des Dreampop. Im Zeitraum von nur wenigen Jahren erschienen zahlreiche Klassiker der Tagtraum-Musik. „On Fire“ ist eines der frühesten Beispiele. Das zweite Album des britischen Trios Galaxie 500 erstreckt sich zum großen Teil in ätherischer Zeitlupe. Das titelgebende Feuer findet sich vor allem in den Emotionen, die Dean Wareham und Naomi Yang in ihren weit entfernten Stimmen verbergen. Diese Musik ist nicht immer leise und verhallt, mitunter holen Galaxie 500 auch zu großen Katharsis-Momenten aus. Doch auch in diesen Momenten bleibt der Sound stets zart.

Julee Cruise – „Floating into The Night“ (1989)

Albumcover von Julee Cruise – „Floating into The Night“

Wer über Traumlogik in der Popkultur schreibt, muss auch über David Lynch schreiben. Der US-Regisseur arbeitet wie kein Zweiter in seinen Filmen mit surrealen (Alb-)Traum-Elementen. Ein wichtiges Element dafür ist die Musik. Eine Stimme, die immer wieder durch seine Werke wie „Blue Velvet“ oder „Twin Peaks“ geistert, ist die von Julee Cruise. Schließlich wurde das Debütalbum der US-Amerikanerin auch von Lynch und seinem Stamm-Komponisten Angelo Badalementi produziert. Die Songs des Albums (inklusive der „Twin-Peaks“-Titelmusik „Falling“) existieren klar in der Lynch’schen Traumwelt, mit aus der Zeit gefallenen Jazz-Elementen und schaurig schönem Gesang, gefiltert durch ewig lange Hallfahnen.

Cocteau Twins – „Heaven Or Las Vegas“ (1990)

Albumcover von Cocteau Twins – „Heaven Or Las Vegas“

Musik als „himmlisch“ zu beschreiben, mutet ein bisschen kitschig an. Speziell wenn das Wort „Heaven“ im Titel vorkommt. Dennoch drängt sich dieses Adjektiv bei „Heaven Or Las Vegas“, dem sechsten Album von Cocteau Twins, unaufhaltbar auf. Es handelt sich hier um 37 Minuten reinster Dreampop-Schönheit, erschaffen aus einem komplexen emotionalen Netzwerk aus Geburt und Tod. Die alle Synapsen gleichzeitig massierenden Instrumentals und Elizabeth Frasers Harmonie-Gesänge sind erhebend und beruhigend zugleich – und vor allem eins: himmlisch.

This Mortal Coil – „Blood“ (1991)

Albumcover von This Mortal Coil – „Blood“

Im Kontrast zur himmlischen Reizüberflutung von Cocteau Twins steht die Musik von This Mortal Coil. Das britische Kollektiv filterte seinen Dreampop-Entwurf durch die dunklen Schattierungen des Goth. Ohne dabei die Schönheit aus den Augen zu verlieren: Ihr drittes Album „Blood“ ist zur Hälfte tiefschwarzer Ambient und zur anderen Hälfte fast schon unerträglich melancholischer Pop. Die wechselnde Riege an Gastsänger*innen (unter anderem dabei: die Breeders-Mitglieder Kim Deal und Tanya Donelly sowie die UK-House-Sängerin Alison Limerick) verwandelt dieses Album in eine einzigartige Dreampop-Revue, so ungreifbar und wunderschön wie die Nacht.

Mazzy Star – „So Tonight That I Might See“ (1993)

Mazzy Star – „So Tonight That I Might See“

„So Tonight That I Might See“, das das zweite Album der US-Band Mazzy Star, beginnt mit dem platonischen Ideal eines Dreampop-Songs: „Fade Into You“. Es ist das ultimative Wiegenlied der Generation X, für das „zum Einschlafen“ keine Beleidigung, sondern ein Kompliment ist. Und das ist nur der Anfang von „So Tonight That I Might See“. Gitarrist David Roback und Sängerin Hope Sandoval schichten ein unfassbar zartes Stück auf das nächste, bis man nur noch zwei Optionen hat: schwelgen oder schlafen.

Lush – „Split“ (1994)

Albumcover von Lush – „Split“ (1994)

Auf der Textebene verarbeiten Lush auf ihrem dritten Album „Split“ tonnenschwere Themen: Songwriterin Emma Anderson singt über Missbrauch, Betrug und Tod. Doch die Musik, die diese Texte umgibt, könnte kaum strahlender sein. Ihre Band spielt einen glitzernden Mix aus Shoegaze und Brit-Pop, angereichert mit sanften Hooklines und aus allen Richtungen gleichzeitig klimpernden Gitarren. Diese inhaltliche und akustische Widersprüchlichkeit ist im Dreampop keine Seltenheit, doch selten wurde sie so eindrucksvoll realisiert wie auf diesem Album.

Fishmans – „Long Season“ (1996)

Albumcover von Fishmans – „Long Season“ (1996)

Während die sogenannte westliche Pop-Welt ihren Dreampop mit den Werkzeugen des Alternative-Rock schuf, dachten Fishmans ihn aus einer anderen Richtung. Das japanische Trio verwendete den ausschweifenden Groove des Dub und elektronische Elemente aus der Neo-Psychedelia – mit mindestens genauso großartigen Ergebnissen. Ihr Meisterstück ist ihr sechstes Album „Long Season“, ein in fünf Abschnitte unterteilter, sich innerhalb von 37 Minuten erstreckender Song. In bester Traumlogik fließen disperse Elemente ineinander, Ideen und Skizzen kommen und gehen wie es ihnen gefällt. Nichts ergibt Sinn, alles ist erlaubt. Das Einzige was zählt, ist Schönheit.

Yo La Tengo – „And Then Nothing Turned Itself Inside-Out“ (2000)

Albumcover von Yo La Tengo – „And Then Nothing Turned Itself Inside Out“  (2000)

„And Then Nothing Turned Itself Inside-Out“, das neunte Album der US-Band Yo La Tengo, klingt nicht nur wie ein Traum – es klingt wie die Nacht an sich. Von den über 16 LPs dieses Trios ist es die mysteriöseste. Jeder Song ist von einem Schleier umgeben. Das könnte vielleicht gruselig anmuten. Tut es aber nicht. Jeder Ton, von den sanften Drones des Openers „Everyday“ bis zum 18-minütigen Abschluss-Jam „Night Falls On Hoboken“ ist bedacht und sanft gespielt. Yo La Tengo waren schon immer verträumt. Hier klangen sie zum ersten Mal gemütlich.

Broadcast – „The Noise Made By People“ (2000)

Albumcover von Broadcast – „The Noise Made By People“ (2000)

Das Debütalbum von Broadcast ist vieles. Ein buntes Sampledelica-Album, das disperse Samples elegant zu einem großen Ganzen verwebt. Ein Paradebeispiel für postmoderne Popmusik, zwischen nostalgischen Klängen und modernen Techniken. Doch vor allem ist „The Noise Made By People“ ein postmodernes Update auf den Dreampop: ein die Grenzen von Raum und Zeit transzendierender, von Sängerin Trish Keenan geerdeter Tagtraum.

Sigur Rós – „( )“ (2002)

Albumcover von Sigur Rós – „( )“ (2002)

Apropos Raum und Zeit: Zwei Dimensionen, die auf dem dritten Album von Sigur Rós überhaupt nicht zu existieren scheinen. Genauso wie Sprache. „( )“ steht für einen wortlosen Albumtitel. Auch die Musik der Isländer kommt ohne herkömmliche Sprache aus. Die wenigen gesungenen Wörter ertönen im von der Band erdachten „Hopelandic“. Diese LP existiert, noch mehr als der Vorgänger „Ágætis Byrjun“, nach ihren ganz eigenen Regeln, fernab von irdischen Songstrukturen. Alles auf diesem Album schwebt – bis im großen Finale in Track 8 plötzlich der Himmel einstürzt.

The Radio Dept. – „Lesser Matters“ (2003)

Albumcover von The Radio Dept. – „Lesser Matters“ (2003)

In der Musik von The Radio Dept. laufen viele Dreampop-Fäden zusammen: psychedelische 60er-Jahre-Vibes. fuzzig-verträumter Shoegaze, ausgewaschene 90er-Jahre-Ästhetik. Schon auf ihrem Debüt „Lesser Matters“ vereinten sie diese Elemente auf eine Art, die in ihrer Summe frisch und aufregend klang. Einerseits wegen ihrer konsequenten 4-Track-Lo-Fi-Ästhetik, anderseits wegen des unnachahmlichen Melodiegespürs des schwedischen Duos.

Grouper – „Dragging A Dead Deer Up A Hill“ (2008)

Albumcover von Grouper  – „Dragging A Dead Deer Up A Hill“ (2008)

Der Musik, die Liz Harris alias Grouper macht, kann man viele Namen geben. Ambient-Pop. Drone-Folk. Fakt ist, dass die im Hall ertränkten Pianos und körperlosen, am Ohr vorbeischwebenden Stimmen ihres Debütalbums „Dragging A Dead Deer Up A Hill“ wie nicht von dieser Welt klingen. Die US-Amerikanerin scheint Geister aus vergangenen Leben, lang verschollene Erinnerungen zu beschwören – oder andere Elemente, die eigentlich nur im Traum ihren vollen Sinn enthüllen.

The Pains Of Being Pure At Heart – „The Pains Of Being Pure At Heart“ (2009)

Albumcover von The Pains Of Being Pure At Heart – „The Pains Of Being Pure At Heart“ (2009)

Was passiert, wenn man zehn wundervolle Pop-Songs durch ein Fuzz-Pedal jagt? „The Pains Of Being Pure At Heart“, das Debütalbum der gleichnamigen Band aus New York. Hier wird das Rad nicht neu erfunden, The Jesus And Mary Chain perfektionierten diesen Ansatz bereits 1985. Das müssen The Pains Of Being Pure At Heart auch gar nicht. Für 34 Minuten wunderbar fokussierte Minuten regiert hier purer Melodien-Genuss, aufgenommen an der Grenze zwischen Shoegaze und Dreampop.

Beach House – „Teen Dream“ (2010)

Albumcover von Beach House – „Teen Dream“ (2010)

Die sieben LPs der US-Band Beach House funktionieren alle auf eine ähnliche Art und Weise. Minimalistische Beats, glitzernde Gitarren-Arpeggios, dichte Orgelfächen und natürlich der gehauchte Alt-Gesang von Victoria Legrand. Das Ding mit dieser Formel ist: Sie ist perfekt. Ein Beach-House-Song ist nicht einfach nur „warm“ – er schmiegt sich wie eine Decke an sein Publikum. Dementsprechend könnte hier jedes ihrer Alben stehen. „Teen Dream“ ist aber möglicherweise trotzdem das beste von ihnen: Das Meisterstück, das diese Formel zementierte. Wer wissen möchte, wie das Konzept des „Schwelgens“ in musikalischer Form klingt, muss nur die ersten 30 Sekunden von „Norway“ hören. Der Rest erklärt sich von selbst.

Washed Out – „Within And Without“ (2011)

Albumcover von Washed Out – „Within And Without“ (2011)

Zum gleichen Zeitpunkt, als Bands wie The Pains Of Being Pure At Heart oder Beach House die grundlegende Form des Dreampop perfektionierten, übersetzte Ernest Weatherly Greene Jr. ihn ins Internet-Zeitalter. Sein Projekt Washed Out gilt als Ursprung des Chillwave, eine Spielart, die die verträumten Melodien des Genres mit Electronica- und House-Elementen verheiratete. Sein Debüt „Within And Without“ demonstriert das wunderbar: Neun Songs an der Schnittstelle zwischen Synth- und Dreampop. Ein gleichermaßen analoger wie digitaler Tagtraum.

Princess Chelsea – „Lil’ Golden Book“ (2011)

Albumcover von Princess Chelsea – „Lil’ Golden Book“ (2011)

Die Traumwelt, die Princess Chelsea in ihrer Musik malt, ist ein bisschen bunter als die ihrer Kolleg*innen. Der Dreampop der Neuseeländerin ist mit Barock-Pop- und Cabaret-Elementen verziert. Synthesizer-Sphären und verhallte Melodien gehen Hand in Hand mit Pauken, Kontrabässen, Glockenspielen und Blasinstrumenten. Ihr Debüt „Lil’ Golden Book“ vermischt in bester Lewis-Caroll-Tradition Märchengeschichten mit Traumlogik. Ein Album, bei dem man nie so genau weiß, was hinter der nächsten Ecke lauert.

DIIV – „Oshin“ (2012)

Albumcover von DIIV – „Oshin“ (2012)

Auch die Musik von DIIV ist hochgradig verspielt. Im Vergleich zu Princess Chelsea kommt das New Yorker Quartett aber ohne Orchester-Instrumentierung aus – stattdessen loten DIIV das volle melodische Potential der klassischen Gitarre-Bass-Schlagzeug-Besetzung aus. Alle zehn Sekunden erstrahlt eine neue Hookline aus dem Off, während der vom Hall ausgewaschene Gesang immer weiter in den Hintergrund rückt. Auf ihrem Debüt „Oshin“ scheinen die Grenzen zwischen Vibe und Song zu verschwimmen.

Candy Claws – „Ceres & Calypso In The Deep Times“ (2013)

Albumcover von Candy Claws – „Ceres & Calypso In The Deep Times“ (2013)

Die ersten Minuten von „Ceres & Calypso In The Deep Times“, dem dritten Album des US-Trios Candy Claws, fühlen sich so an, als würde man ohne Umschweife in einen kilometertiefen Ozean geworfen werden – sprich, wie pure Reizüberflutung. Ein überlebensgroßer Fuzz-Bass, in alle Richtungen gleichzeitig glitzernde Synthesizer und das alles in extremer Lautstärke. Zum Glück gibt es in diesen Gewässern wahnsinnig viel zu entdecken: Die Musik von Candy Claws sprudelt nur so über vor Details, mit unerwarteten Chillwave-Ausflügen, Folk-Zwischenspielen und Dreampop-Refrains.

Jay Som – „Turn Into“ (2016)

Albumcover von Jay Som – „Turn Into“ (2016)

Melina Mae Duterte hatte den Dreampop bereits im Alter von 22 Jahren durchgespielt. Und das aus ihrem Schlafzimmer heraus. Die neun Songs von „Turn Into“, dem Debüt der US-amerikanisch-philippinischen Musikerin, wurden von ihr selbst zu Hause aufgenommen. Jeder einzelne von ihnen ist ein kleines Meisterstück. Mit unaufgeregter Stimme, liebevoll geschichteten Gitarren-Wänden, schranzigem Lo-Fi-Charme und präzisem Songwriting schuf Duterte aka Jay Som einen jungen Klassiker des Genres, der bei jedem erneuten Hören neue Geheimnisse offenbart.

Slowdive – „Slowdive“ (2017)

Albumcover von Slowdive – „Slowdive“ (2017)

In der „goldenen Zeit des Dreampops“, den späten 80er- und frühen 90er-Jahren, schuf die britische Band Slowdive Meilenstein um Meilenstein: das strahlende Debüt „Just For A Day“, den Shoegaze-Klassiker „Souvlaki“, das abstrakte Meisterwerk „Pygmalion“. Dies sei alles erwähnt, um zu demonstrieren, wie unfassbar gut ihr selbstbetiteltes Comeback-Album aus dem Jahr 2017 ist. „Slowdive“, veröffentlicht nach einer zwanzigjährigen Bandpause, ist möglicherweise ihr stärkstes Werk. Alles, was diese Band in ihrer ersten Phase hervorbrachte, ist hier vorhanden, nur besser. Jeder Song ist ein tiefer Ozean. Jede Melodie eine Offenbarung. Alleine die transzendentale Single „Sugar For The Pill“ spricht für sich selbst. Vielleicht ist es die altersweise Erfahrung, die „Slowdive“ so großartig macht. Vielleicht ist es auch einfach Zauberei.

Low – „Double Negative“ (2018)

Albumcover von Low – „Double Negative“ (2018)

Bei all dem Geschreibe über das Träumen stellt sich eine Frage: Wie klingen eigentlich Albträume? Also nicht Horrorfilm-Klischees, sondern der tatsächliche, beklemmende Kontrollverlust, den man so nur in einem Albtraum spüren kann? Diese Frage wurde 2018 aus unerwarterer Richtung beantwortet: Und zwar von den Slowcore-Pionieren Low. Das US-Trio arbeitete 25 Jahre lang mit extremer Langsamkeit und wunderschönem Harmonie-Gesang, nur um sich auf seinem zwölften Album neu zu erfinden. „Double Negative“ ist ein sich im wahrsten Sinne des Wortes unwirklich anfühlendes Werk. Es gibt viel Dreampop-Schönheit auf diesem Album, doch sie ist unter erstickendem Noise und digitalem Rauschen begraben. Selten ist das surreal abstrakte Gefühl des Träumens so spürbar wie auf dieser LP.

Jessica Pratt – „Quiet Signs“ (2019)

Albumcover von Jessica Pratt – „Quiet Signs“ (2019)

Eines der schönsten Dreampop-Alben aller Zeiten kommt komplett ohne die typischen minimalistischen Drumbeats, ohne sphärische Synthesizer oder E-Gitarren aus. „Quiet Signs“, das dritte Album von Jessica Pratt. Es ist, wie der Titel verspricht, eine sehr stille Angelegenheit. Die US-Künstlerin lässt ihre Gitarre wie Erik-Satie-Kompositionen klingen, so zart zupft sie ihr Instrument. Ihre Stimme klingt, als wäre sie meilenweit entfernt. Wie eine verblassende Erinnerung ziehen die Songs am Ohr vorbei. Hier ist nicht klar, wo der Folk aufhört und der Dreampop anfängt. Den Ozean, den Slowdive mit Dutzenden Verstärkern und Effekt-Pedalen erschaffen, schöpft Pratt nur mit Gesang und Gitarre.

Lisa Morgenstern – „Chameleon“ (2019)

Albumcover von Lisa Morgenstern – „Chameleon“ (2019)

Apropos Erik Satie: Auch die Musik von Lisa Morgenstern scheint ein wenig von dem französischen Minimalisten beeinflusst zu sein. Auf „Chameleon“, dem zweiten Album der klassisch ausgebildeten Pianistin und Komponistin, ist das Klavier eines der zwei wichtigsten Instrumente. Das andere ist der Synthesizer. Morgenstern lässt die Grenzen zwischen Synth-Pop und Neo-Klassik, zwischen Chillwave und Romantik verschwimmen – und erschafft dabei eines der virtuosesten Dreampop-Alben.

Agnes Obel – „Myopia“ (2020)

Albumcover von Agnes Obel – „Myopia“ (2020)

Auch Agnes Obel ist eine klassisch ausgebildete Pianistin. Während Lisa Morgenstern in ihrer Musik in alle Richtungen gleichzeitig strahlt, ist Obels Kunst jedoch von introvertierter Natur. Auf ihrem vierten Album „Myopia“ gibt es viele große Momente, mit Orchester-Pizzicatos und marschierenden Toms, doch die Energie richtet sich nach innen. Obels Stimme klingt sehr nah und fremd zugleich. „Myopia“ ist pure Nachtmusik, irgendwo zwischen This Mortal Coil und Franz Schubert – und vor allem eins: einzigartig.

Midwife – „Forever“ (2020)

Albumcover von Midwife – „Forever“ (2020)

Was eint all diese sehr unterschiedlichen Alben? Egal ob mit digitalen Synthesizern oder analogen Gitarren, ob von Electronica oder Neo-Klassik beeinflusst: Der größte gemeinsame Nenner des Dreampop scheint eine Suche nach der puren Schönheit zu sein. Auch Madeline Johnston hat sie gefunden. Die Künstlerin aus Denver, die unter dem Namen Midwife musiziert, veröffentlichte 2020 ein Album namens „Forever“. Es ist gefüllt mit Momenten, die mit ihrer schieren Strahlkraft nur so blenden. Sie benutzt die Mittel des Shoegaze, sprich Verzerrung und Langsamkeit, doch auf eine Art und Weise, die sich sehr modern anfühlt. Dreampop, so schön wie er nur sein kann.

Bild mit Text: „Ja ich will Radiokultur unterstützen“ / „Freunde von ByteFM“

Das könnte Dich auch interessieren:

  • Die 30 besten Noise-Rock-Alben aller Zeiten
    Zu schräg fürs Rock-Radio, nicht verkopft genug für die E-Musik: Der Noise-Rock ist eine spannende Schnittstelle zwischen Pop und Avantgarde. Das sind die (unserer Meinung nach) 30 besten Noise-Rock-Alben aller Zeiten! ...
  • Slowdive – Slowdive (Rezension)
    Nach 22 Jahren haben Slowdive ein neues Album veröffentlicht. Darauf unternehmen die Briten einen "trip down memory lane" und wirken dabei doch erstaunlich frisch. ...
  • Cover von Low – „Double Negative“ (Sub Pop)
    In 25 Jahren Bandgeschichte haben es Low immer wieder geschafft, ihren Sound konsequent weiterzuentwickeln. Auf die Revolution, die nun mit „Double Negative“ Einzug hält, konnte man trotzdem nicht vorbereitet sein....


Deine Meinung

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert.