Die ByteFM Jahrescharts 2021

Collage aus Covern der meistgespielten Alben bei ByteFM im Jahr 2021

Die Taschenrechner sind heiß gelaufen – welches ist 2021 wohl das meistgespielte Album im Programm von ByteFM?

Die liebsten Songs und Alben des Jahres 2021 unserer Moderator*innen haben wir Euch bereits verraten – doch nach so viel geballter Subjektivität ist es nun Zeit, kalte, harte Zahlen sprechen zu lassen! Wir haben das ByteFM Jahr ausgewertet und präsentieren Euch hier unsere 40 meistgespielten Alben 2021 – kurzum: die ByteFM Jahrescharts 2021!

Präsentiert wurde die Liste von Diviam Hoffmann am 27. Dezember 2021 in einem Freispiel. Mitglieder im Förderverein „Freunde von ByteFM“ können die Sendung auch in unserem ByteFM Archiv nachhören.

Eine letzte Bestenliste des Jahres gibt es noch als krönenden Abschluss am Silvesternachmittag: eure Lieblinge. Die Ergebnisse des ByteFM Polls präsentieren wir Donnerstag, den 31. Dezember 2021 in den Jahrescharts der Hörer*innen. Mit den Künstlerinnen und Künstlern, die Euch am meisten bedeutet haben, dem beliebtestem Album, den überraschendsten Newcomer*innen, drei Stunden lang in unserem Programm. Von 14 bis 17 Uhr in den, moderiert von Ruben Jonas Schnell.

Unsere meistgespielten Alben des Jahres:

Jahrescharts 2021 Platz 40

40. El Michels Affair – „Yeti Season“

Leon Michels, New Yorker Musiker, Produzent und Songwriter, ist in der Welt der Throwback-Musik eine omnipräsente Figur. Michels war in den Nullerjahren Teil von gleich zwei einflussreichen Retro-Soul-Bands: Sharon Jones & The Dap-Kings und Lee Fields & The Expressions. Mit seiner aktuellen Formation El Michels Affair hat er im Frühjahr 2021 das Album „Yeti Season“ veröffentlicht – eine Hommage an türkischen und indischen Retro-Funk und -Soul. Doch hinter diesem Album steckt noch mehr: Es ist eine wahre Family Affair! Denn „Yeti Season“ ist eine Adaption des gleichnamigen Kinderbuchs, geschrieben von Michels Mutter. In den Musikvideos tauchen seine Kinder Emilia, Malena und Pablo auf. Eines der charmantesten Alben dieses Jahres.

Jahrescharts 2021 Platz 39

39. Teenage Fanclub – „Endless Arcade

Die Dinge unverstellt wiederzugeben, dies gehört zu den Stärken von „Endless Arcade“, dem neuesten Werk der schottischen Indie-Rock-Institution Teenage Fanclub. Auf ihrer elften Studio-LP entfaltet sich im texturreichen Melodienmeer ein Wechselspiel von hoher narrativer und ästhetischer Kohärenz, zwischen Verzweiflung und Hoffnung. Das im Hamburger Clouds Hill Studio produzierte Album ist so bescheiden wie brillant. Es berührt, ohne zu beschweren.

Jahrescharts 2021 Platz 38

38. Lump – „Animal

Die Musik von Lump hat die Kraft, komplexe Gedankengänge über musikalische Banalitäten anzustoßen. Warum? Weil die beiden Brit*innen in die Magie der Musik an sich verliebt zu sein scheinen. Das aus Folk-Singer-Songwriterin Laura Marling und Folktronica-Künstler Mike Lindsay (Tunng) bestehende Duo konstruiert auch auf seinem zweiten Album „Animal“ wieder liebevolle, dreidimensionale Sound-Welten, in denen jeder einzelne Ton Gewicht hat.

Jahrescharts 2021 Platz 37

37. H.E.R. – „Back Of My Mind

In der Welt des US-amerikanischen Mainstream-R&Bs gab es dieses Jahr kein ambitionierteres Album als „Back Of My Mind“, das Debütalbum von Gabriella Sarmiento Wilson alias H.E.R. Mit 21 Tracks in 80 Minuten ist es definitiv zu lang, doch die Songs haben es in sich: „We Made It“ ist pures Endorphin, mit seiner sich wunderschön in die Höhe schraubenden Hookline und dem psychedelisch angehauchten Instrumental. Das Trap-inspirierte „Find A Way“ macht einfach nur Spaß, komplett mit euphorisch-hysterischem Autotune-Gegurgel von Gastrapper Lil Baby. „Bloody Waters“ kann einen der schönsten Grooves dieses Sommers vorweisen, geschmiedet von den Gastmusikern Thundercat und Kaytranada. Viele dieser Songs demonstrieren den Zauber, der den R&B von Acts wie Solange oder Kehlani zu hoher Kunst macht.

Jahrescharts 2021 Platz 36

36. Courtney Barnett – „Things Take Time, Take Time

Auf „Things Take Time, Take Time“ arbeitet Courtney Barnett in der gleichen musikalischen Komfortzone, in der sie sich auch auf dem Debüt und ihrer Kollabo-LP mit Kurt Vile bewegt hat. Da gibt es von herbstlichem Sonnenaufgang angestrahlten Jangle-Pop und im Spaziertempo nach vorne galoppierenden Folk-Rock. Das Wort „Komfortzone“ wird ja gemeinhin gerne als abwertende Bezeichnung benutzt, mit einer Implikation von kreativer Faulheit. Das trifft im Falle der Australierin jedoch nicht zu. Schließlich reden wir hier über eine der besten Texterinnen ihrer Generation. Anstatt ihren scharfen Blick nach innen zu richten, zeigt sich Barnett auf „Things Take Time, Take Time“ erneut als pointierte Beobachterin – und die gemütlichen Instrumentals lassen viel Raum für diese Observationen.

Jahrescharts 2021 Platz 35

35. Sugar Candy Mountain – „Impression

Rosa glänzende Gitarrenakkorde, butterweiche Bassläufe, knusprige Drum-Fills: Die Musik von Sugar Candy Mountain ist so süß und bunt, wie ihr Bandname verspricht. Das Duo aus Oakland, Kalifornien, spielt bereits seit fast zehn Jahren eine Mischung aus farbenfroh verstrahltem Psych-Rock und tanzenden Tropicália-Grooves. Diese Mixtur kann beim ersten Hören mitunter ein bisschen klebrig wirken, wie inhaltsleere Retromanie. Psychedelische Musik als lahmer Selbstzweck. Erste Eindrücke sind aber auch meistens überbewertet. Das passenderweise „Impression“ benannte vierte Sugar-Candy-Mountain-Album zeigt nämlich zwei meisterhafte Pop-Architekt*innen, die nicht nur mit viel Liebe zum Detail die Sounds der Vergangenheit nachbauen, sondern auch noch gekonnt im Hier und Jetzt verankern.

Jahrescharts 2021 Platz 34

34. Modeselektor – „Extended“

Das neue Werk von Modeselektor, ist technisch gesehen kein neues Album, sondern ein Mixtape. Diese Unterscheidung war und ist Gernot Bronsert und Sebastian Szary sehr wichtig: „Extended“ ist eine Hommage an die Rave-Tape-Ära der 90er-Jahre – und im weiteren Sinne eine eigene Reise durch die Vergangenheit der deutschen Dancefloor-Institution. Bronsert und Szary präsentieren all das, was sie am besten können: knarzende Electronica, markerschütternde Bassmusik, sphärische Dancehall-Exkursionen. Ein Tape, das sich ein bisschen wie ein „Best-of“ anfühlt, obwohl fast alle der Tracks neu sind.

Jahrescharts 2021 Platz 33

33. Black Country, New Road – „For The First Time

Black Country, New Road sind eine wahrlich exzentrische Band. Zuerst macht sich das in ihrer Musik bemerkbar: „For The First Time“, das Debütalbum des britischen Septetts, beginnt mit einem Instrumental, das innerhalb von fünf Minuten einen wahnsinnigen Strudel aus Klezmer, Afrobeat und Noise-Rock entfaltet. Die sieben Musiker*innen entstammen einer Szene, in der das Wort „Genre“ wenig Bedeutung hat. Genau wie andere junge britische Weirdos wie Squid oder Black Midi brechen Black Country, New Road Rock-Musik auf ihre Einzelteile herunter und fügen sie in ihrer ganz eigenen Art und Weise wieder zusammen.
Bass, Schlagzeug und Gitarren erinnern in ihrer atonalen Intensität an den Post-Rock von Slint, vermischt mit zappeligem Math-Rock aus der Battles-Schule. Saxofonist Lewis Evans und Violinistin Georgia Ellery können mit ihren Instrumenten pure Schönheit und verschlingendes Chaos kanalisieren. Im Abschluss „Opus“ bauen sie an John Coltrane erinnernde Klangwasserfälle aus Klezmer-Tonleitern. Die Ballade „Track X“ klingt in der Mitte wie ein wunderschöner Philip-Glass-Soundtrack. Diese Band hat keinen Filter, jede Idee wird umgesetzt. Manchmal sogar alle gleichzeitig. Nie ist klar, welche als nächste kommen kann. Selten war der pure Akt des Musikhörens so spannungsgeladen.

Jahrescharts 2021 Platz 32

32. Curtis Harding – „If Words Were Flowers

Wenn Curtis Harding nicht ein überaus erfolgreicher Musiker geworden wäre, hätte er wahrscheinlich einen sehr guten Floristen abgegeben. Der Singer-Songwriter aus Michigan versteht es auf jeden Fall sehr gut, geschmackvolle Collagen zusammenzustellen. Auf seiner dritten LP „If Words Were Flowers“ spaziert Harding ausgiebig durch den Garten der (afro-)amerikanischen Popmusik – und suchte sich die schönsten Knospen zusammen. Eine Portion Psychedelic-Soul aus der Isaac-Hayes-Schule. Eine großzügige Prise vom Funk seines Namensvetters Curtis Mayfield. Ein bisschen beseelter OutKast-HipHop. Ein paar schroffe Garage-Rock- und Garage-Punk-Akzente à la Death. Und wie es sich für einen guten Floristen gehört, ist das Ergebnis dann auch noch mehr als die Summe seiner Teile.

Jahrescharts 2021 Platz 31

31. Zwanie Jonson – „We Like It

Die unter eigenem Namen veröffentlichten LPs des vielbeschäftigten Schlagzeugers, Produzenten und Singer-Songwriters Zwanie Jonson gehören zum leichtfüßigsten, was es in der hiesigen Popmusik zu hören gibt. Auch „We Like It“, sein 2021 erschienenes viertes Solowerk, schlägt in diese Kerbe. Jeder der in diesen elf Songs versammelten Töne klingt grazil. Es handelt sich um mühelos wirkenden, eleganten Sunshine-Pop, dessen Ursprung man eigentlich an der US-amerikanischen Westküste vermuten würde. Selbst die schleppendsten Momente von „We Like It“ wirken einladend. „If you want my appartment, you can sleep in it“, singt Jonson passenderweise. Diese Musik ist vor allem eins: freundlich. Und davon kann man in diesen Zeiten nie genug haben.

Jahrescharts 2021 Platz 30

30. Parquet Courts – „Sympathy For Life

Nach zehn Jahren an der Spitze des modernen Post-Punks hätten Parquet Courts theoretisch einen ewigen Freischein, einfach mal zu entspannen und den kreativen Autopilot einzuschalten. Umso cooler, dass sie es nicht tun. Ihr aktuelles Album „Sympathy For Life“ wirkt wie der ultimative Kraftbeweis, nach dem niemand gefragt hat – und der trotzdem immer willkommen ist. Es zeigt eine Band, die nach sechs wegweisenden LPs einfach eine siebte hinterherschieben kann. Denn Parquet Courts sind immer noch hungrig. Auch nach zehn Jahren mischt immer noch niemand so elegant gute Vibes und schlechte Laune wie diese Band.

Jahrescharts 2021 Platz 29

29. Rodrigo Amarante – „Drama

Auf seinem zweiten Soloalbum „Drama“ spielt der Brasilianer Rodrigo Amarante verstrahlte Bossa Nova und Samba für den Salzwasser-Tank. Die Polyrhythmik, die jeden dieser Songs auszeichnet, sorgt für eine allgemeine Spannung, die Amarante mit lieblichen Melodien und dem Trommelfell schmeichelnden Gesang auflöst. Die Worte mögen auf Portugiesisch sein, doch die musikalische Sprache ist universell. „Drama“ ist ein meisterhaftes, psychedelisches Pop-Album, das in einer gerechten Welt jeden Sommer in jedem Wohnzimmer aufgelegt werden sollte.

Jahrescharts 2021 Platz 28

28. Arlo Parks – „Collapsed In Sunbeams“

„I know you can’t let go of anything at the moment, just know it won’t hurt so, won’t hurt so much forever.“ Das ist der erste Refrain, den die Britin Arlo Parks auf ihrem Debütalbum „Collapsed In Sunbeams“ singt – und sozusagen die Grundthese dieser wunderbaren Folk-Soul-LP. Es tut weh, aber es tut nicht für immer so weh. Das entscheidende Gefühl, das der Song den Hörer*innen vermittelt ist aber: Du bist nicht allein. Und dieses Gefühl wird vor allem von Arlo Parks‘ Stimme vermittelt. Parks singt sanft und zurückhaltend und beruhigend. Das Leben kann noch so verstörend sein, aber solange es Stimmen wie die von Arlo Parks gibt, ist noch nicht alles verloren.

Jahrescharts 2021 Platz 27

27. Nubiyan Twist – „Freedom Fables

Im Meer an Neuveröffentlichungen aus der UK-Jazz-Szene können Nubiyan Twist nicht unbedingt mit Originalität hervorstechen. Das müssen sie auch überhaupt nicht. Die zehn Menschen starke Band hat einen nicht besonders neuen, aber in seiner Umsetzung sehr beeindruckenden Fokus: den Groove. Wie ihre New Yorker Kolleg*innen Antibalas benutzen sie Afrobeat und Highlife als Sprungbrett, um diverse Groove-basierte Genres zu erkunden. Genau wie das internationale Kollektiv Keleketla! legen sie einen Fokus auf Zusammenarbeit: Wie schon auf dem 2019er Album „Jungle Run“ haben sich Nubiyan Twist einige Mitmusiker*innen und Sänger*innen ins Studio geholt. Jedem seiner Gäste baut das Kollektiv auf „Freedom Fables“ ein unfassbar tightes Fundament. Auf diesem Album ist alles erlaubt. Hauptsache, es groovt.

Jahrescharts 2021 Platz 26

26. Fehler Kuti – „Professional People“

Man sollte sich nicht von der überwiegend wortlosen Musik von Julian Warner aka Fehler Kuti täuschen lassen: Die Musik des studierten Sozialwissenschaftlers ist inhaltlich extrem aufgeladen. Auch sein neues Album „Professional People“ ist wieder ein höchst politisches Werk geworden. Aber gerade in dieser Hinsicht auch ein Album, das Vieles nicht sein möchte. Denn einerseits handelt es sehr explizit von Rassismus, Ausbeutung und -grenzung. Selbst dann, wenn die Stücke instrumentaler Natur sind, spielen sie mit symbolhaften musikalischen und sprachlichen Elementen. Und sei es einfach durch so scheinbar unauffällige Titel wie das beunruhigend blubbernde „Bürogebäude in und um Frankfurt“. Die natürlich ein Symbol des Kapitalismus sind. Niemand vereint so gut Diskurs und Groove wie Fehler Kuti.

Jahrescharts 2021 Platz 25

25. Vanishing Twin – „Ookii Gekkou

„The Age Of Immunology“, das 2019er Debütalbum des Londoner Quartetts Vanishing Twin, war bereits von extrem eklektischer Natur, eine wilde Mischung aus Kraut, Funk, Sun-Ra-Worship und Dada-Ästhetik. Doch der 2021 erschienene Nachfolger setzt dem noch Einiges drauf. „Ookii Gekkou“ ist ein wahres Kaleidoskop, das in verschiedensten Formen und Farben schillert – und alle zehn Sekunden etwas Neues offenbart. Vanishing Twin scheinen immer in alle Richtungen gleichzeitig zu denken. Es macht viel Freude, ihnen dabei zuzuhören.

Jahrescharts 2021 Platz 24

24. The Bug – „Fire

The Bug, das Soloprojekt des britischen Grenzgängers Kevin Richard Martin, ist eine extreme Angelegenheit. Martins The-Bug-Tracks ließen sich grundsätzlich konsenstauglichen Genres wie Dub, Grime oder Dancehall zuordnen, wenn sie nicht durch den Noise-Fleischwolf und den mächtigsten Bassfilter der Welt gezogen worden wären. Diese Musik schreit nach dunklen, gefährlichen Kellerloch-Raves – gefährlich, da dieser Bass ganze Hochhäuser zum Einstürzen bringen könnte. Sein erstes The-Bug-Album seit sieben Jahren ist da keine Ausnahme – und bietet allerlei WTF-Momente in schneller Abfolge, abgerundet von fantastischen Features von Acts wie Moor Mother, Daddy Freddy und Roger Robinson.

Jahrescharts 2021 Platz 23

23. Conny Frischauf – „Die Drift“

„Gefangen in der endlosen Schleife“, singt Conny Frischauf fast schon mantrahaft im passend betitelten Song „Roulette“, der ersten Single ihres Debütalbums „Die Drift“. Die Wiener Künstlerin dreht sich nicht nur textlich, sondern auch musikalisch bewusst im Kreis: statisch-krautige Bassgrooves und Drumbeats treffen auf Synthesizer-Melodien und Sounds, die das „konstante und nicht konkrete Gedanken-Roulette“, von dem sie singt, konkret erfahrbar machen. Auf „Die Drift“ verbindet Frischauf Elemente aus Kraut, Leftfield-Electronica und Synth-Pop und erschafft aus diesen Komponenten komplexe, verspielte aber dennoch leicht klingende Songs.

Jahrescharts 2021 Platz 22

22. Maya Jane Coles – „Night Creature

Der House- und UK-Garage-Mix von Maya Jane Coles ist stets von einer sanften Melancholie durchzogen. Die japanisch-britische Produzentin schreibt Tracks, die einen von der Tanzfläche über den von der Morgensonne beleuchteten Heimweg bis vor die Haustür begleiten können. Dementsprechend wundert es nicht, dass ihr neues Album „Night Creature“ laut eigener Aussage den Wechsel von der Nacht zum Tag, vom Dunkel ins Licht symbolisieren soll. Dieser Übergang wird aber nicht strikt chronologisch dargestellt. Die LP beginnt nicht im Herzen der Nacht und endet nicht am Morgen danach. Stattdessen sind die beiden Pole miteinander verbunden. Denn „Night Creature“ bringt gleichermaßen Herz, Kopf und Beine zum Vibrieren.

Jahrescharts 2021 Platz 21

21. School Of Zuversicht – „An allem ist zu zweifeln

Gute elektronische Musik kann mehr, als nur zum Tanzen animieren. Sie kann das Gefühl eines freien Falls vermitteln. Patricia Wedler macht genau diese Art von Musik. Und noch so viel mehr. Schließlich ist die Hamburger Künstlerin, besser bekannt unter dem Namen DJ Patex, mit „Freuden ein Opfer der Gravitation“. Das singt sie selbst in den ersten Minuten von „An allem ist zu zweifeln“, dem zweiten Album ihres Projekts School Of Zuversicht. Zehn lange Jahre sind seit dem Debüt „Randnotizen From Idiot Town“ ins Land gezogen – und der Nachfolger „An allem ist zu zweifeln“ beginnt direkt mit einer Meisterleistung in Sachen freier Fall. Wedlers Musik zuckt, reißt und rüttelt an ihrem Publikum, stellenweise mit einer Intensität, die an ekstatischen Footwork erinnert.
Die Genregrenzen ignorierende Diversität dieser LP ist der grundlegenden Struktur von School Of Zuversicht geschuldet: Wie auch schon beim Vorgänger agiert Wedler als Angelpunkt für zahlreiche Gastauftritte. Bei diesem Gesamtkunstwerk sind unter anderem Carsten „Erobique“ Meier, Plemo, Pantha Du Prince und Knarf Rellöm (dessen Killer-Falsett „Salon der Idioten“ veredelt) involviert.

Jahrescharts 2021 Platz 20

20. Jane Weaver – „Flock

Wenn ein*e Künstler*in nach fast 30 Jahren im Business behauptet, das Album geschaffen zu haben, das sie oder er „schon immer machen“ wollte, dann sollte man zuhören. Genau das sagt Jane Weaver über ihr aktuelles Werk „Flock“. Die LP wirkt nicht wie die durch Weavers Statement implizierte radikale Neuerfindung. Stattdessen scheint ihr achtes Soloalbum wie eine Zelebrierung von all dem, was ihre Musik besonders macht. „Heartlow“ eröffnet das Album mit motorisiertem Post-Rock aus der Stereolab-Schule, verziert mit dem wunderbar unaufgeregtem Gesang, den Weaver seit ihrem ersten Solo-Outing „Like An Aspen Leaf“ perfektioniert hat. „The Revolution Of Super Visions“ ist mit seinen schmierigen Fuzz-Gitarren und seinem jede Mikrosekunde auskostenden Groove nicht nur der Song mit dem meisten Funk, sondern auch einer der eingängigsten. An diesen Schnittstellen zwischen Eingängigkeit und Avantgarde strahlte Weavers Musik schon immer am stärksten – und noch nie so sehr wie auf diesem Album.

Jahrescharts 2021 Platz 19

19. The Weather Station – „Ignorance“

Auf dem Papier ist The Weather Station das Solo-Projekt der kanadischen Musikerin und Sängerin Tamara Lindeman. Ihre bisherigen LPs passten sehr gut ins folkige Singer-Songwriter-Schema – doch ihr neuestes Opus ist ein ganz eigenes Biest: „Ignorance“ ist das Werk einer siebenköpfigen Band, gefüllt mit Jazz-Saxofonen, Grooves und flirrenden Streichern. Gelegentlich erreicht diese Band fast schon Post-Rock-Höhen à la Talk Talk.

Jahrescharts 2021 Platz 18

18. Die P – „3,14

Die P hat keine Zeit für effekthascherischen Double-Time-Rap oder prominente Feature-Gäste. Stattdessen demonstriert die Bonner Musikerin seit ihrer allerersten EP „Bonnität“ einen messerscharfen Fokus, den man sonst im Deutschrap häufig vermisst. Auf ihren Tracks ist sie stets die einzige Rapperin – und lässt auch mit ihren meisterhaft konstruierten Zeilen nicht viel Platz für andere. Ihr Debütalbum „3,14“ beginnt gleich mit so einer: „Dieses Leben schenkt Dir nichts, komm erzähl mir nichts von Glück / Ein Schritt nach vorn’, aber zwei Schritte zurück.“ Konzepte wie „Schicksal“ und „Glück“ scheinen für Die P nur leere Versprechen einer kapitalistischen Musikindustrie zu sein. Auch für die hat sie keine Zeit. „3,14“ zeigt eine Künstlerin, die sich ihren Status mit harter Arbeit verdient hat. „Laufen durch das Hamsterrad, das sich Leben nennt / Für Leute wie uns gibt’s hier nichts geschenkt.“

Jahrescharts 2021 Platz 17

17. Ja, Panik – „Die Gruppe Ja, Panik

Das Jahr 2021 begann mit einer Überraschung: „Apocalypse Or Revolution“, die erste neue Single von Ja, Panik seit sieben Jahren. Lange war es still um die Band, ihre letzte LP, die Pop-Utopie „Libertatia“, erschien im Jahrhunderte weit entfernt scheinenden Jahr 2014. Die Zeit war reif für ein neues Meisterwerk von der Gruppe Ja, Panik. Vorhang auf für „Die Gruppe Ja, Panik“, den sechsten Langspieler der Apokalypsen-Utopist*innen – ein Album, das unsere harte, moderne und auch bittere Zeit schonungslos reflektiert.
Apocalypse Or Revolution“ ist der letzte und beste Song des Albums. Doch auf dem Weg dorthin gibt es noch so viel anderes zu bestaunen. Der Einstieg „Enter Exit“ demonstriert eindrucksvoll den tiefen Sound der LP, mit Noise-Rauschen, Saxofon und Orgel-Klängen, die um Andreas Spechtls Gitarre und Stimme kreisen. In „Gift“ kommen die Drums dazu – und mit ihnen der potentielle dringlichste Ja-Panik-Sound aller Zeiten. Ein Ja-Panik-Album wäre natürlich kein Ja-Panik-Album ohne ihre manifestartigen Texte. Auf „Die Gruppe Ja, Panik“ gibt es viele, betörend schlichte Bonmots, die man direkt auf die nächste Neubaufassade schmieren möchte: „The only cure for capitalism is more capitalism.“ „Ja der Riss der Welt geht auch durch mich / Durch mein Device, durch mein Gesicht.“ Wie gut, dass es dieses Album gibt. Und diese Gruppe.

Jahrescharts 2021 Platz 16

16. Slowthai – „Tyron

Tyron Kaymone Frampton aka Slowthai ist ein Trapezkünstler. Beziehungsweise wäre er bestimmt ein sehr guter, wenn der Brite nicht hauptberuflich Rapper wäre. Einerseits ist er ein hochenergetisches Enfant terrible, das mit bombastischen Beats, hysterischem Flow für Angst, Schrecken und Furore sorgt – und dabei mit einem abgetrennten Pappmaché-Kopf vom Premierminister Boris Johnson herumwedelt. Andererseits ein sensibler, spitzfedriger Künstler, dessen Debütalbum „Nothing Great About Britain“ 2019 für den renommierten Mercury Prize nominiert wurde. Im besten Fall sogar beides gleichzeitig, wie sein neues Album „Tyron“ beweist. Slowthai adaptiert hier die Struktur, die sein US-amerikanischer Rap-Kollege Danny Brown bereits 2013 auf seiner LP „Old“ demonstrierte: ein zweigeteiltes Album, eine Hälfte Banger, eine Hälfte Balladen. Beide Seiten der „Tyron“-Medaille ergänzen sich zu einem großen, komplexen Ganzen.

Jahrescharts 2021 Platz 15

15. Andy Stott – „Never The Right Time

Andy Stott produziert keine Songs. Er komponiert kleine Ozeane. Die Tracks, die der Künstler aus Manchester veröffentlicht, laden förmlich zum Eintauchen ein. „Never The Right Time“, sein sechster Langspieler, klingt wie ein Amalgam aus all den Vorgängerplatten – ein Werk, auf dem Andy Stott all das macht, was er am besten kann: kilometerlange Hallfahnen, knarzende, minimalistische Percussions, leicht neben der Spur tanzende Beats. Abenteuerliche Tänzer*innen könnten vielleicht zu diesen Songs herumzappeln. Dies ist jedoch nie das Ziel von Stotts Tracks. Das hier ist Kopfhörermusik in ihrer reinsten Form, vom ASMR-Rascheln und Handy-Störgeräusche kombinierenden „Don’t Know How“ bis zum Zeitlupen-Synth-Pop des Abschlusssongs „Hard To Tell“. Wer diese Musik ganz nah an sein oder ihr Ohr lässt, sollte nur auf eines aufpassen: nicht in diesem Klangozean zu ertrinken.

Jahrescharts 2021 Platz 14

14. Albertine Sarges – „The Sticky Fingers“

Der Preis für die beste Silben-Aussprache im Jahr 2021 geht ganz klar an Albertine Sarges, für ihr seltsam überschlagenes „Poooint“ in ihrer Single „The Girls“. Die Berliner Künstlerin versteht es, ihren modernen Indie-Dreampop mit der Weirdness des 80er-Jahre-Post-Punk zu untergraben. „The Sticky Fingers“, das Debütalbum von Albertine Sarges ist gefüllt mit solchen kleinen und großen Zaubermomenten – und in Gänze betrachtet einfach ein wunderbares und seltsames Stück Pop-Kunst.

<Jahrescharts 2021 Platz 13

13. Tirzah – „Colourgrade

Ein Tirzah-Song kam bisher stets in brutalistischem Betongrau daher. Die Britin sang auf ihrem 2018er Debütalbum „Devotion“ Liebeslieder für verlassene Lagerhallen, die perfekten Soundtracks für Spaziergänge durch menschenleere Industriegebiete, abgelichtet in den Farben der tiefsten Nacht. Das ist auf „Colourgrade“ nicht anders. Generell ist hier vieles sehr ähnlich zum Vorgänger: Tirzah begibt sich kaum aus ihrer Komfortzone der elektronischen Herzmusik heraus.
Auch die Zusammenarbeiten sind fast identisch mit denen auf „Devotion“. Das klingt jetzt, als wäre das etwas Schlechtes. Doch wer auf solch einem Level arbeitet wie Tirzah, muss sich nicht neu erfinden, um atemberaubende Kunst zu produzieren. Und, da seid Euch sicher, der Atem wird auf „Colourgrade“ ziemlich oft geraubt. „Hive Mind“ ist ein schwereloses R&B-Duett mit Coby Sey, das mit minimaler Instrumentation maximale Intensität beschwört. Im Album-Abschluss „Hips“ teilt Tirzahs glockenklare Stimme ein Nebelmeer aus zwitschernden Synthesizern, wie die ersten Sonnenstrahlen am Rave-Morgen. Es ist wahrlich eine Freude, wieder in Tirzahs monochrome Nachtmusik einzutauchen.

Jahrescharts 2021 Platz 12

12. James Blake – „Friends That Break Your Heart

Es gab mal eine Zeit, da machte James Blake sehr subtile Musik. Diese Zeit ist vorbei. „Friends That Break Your Heart“, seine vierte Studio-LP, ist ein großes Album, gefüllt mit herzerweichenden Balladen und eingängigen R&B-Hooks. Allein die erste Single, „Say What You Will“, ist ein sich langsam aufbauendes Stück Blue-Eyed-Soul, irgendwo zwischen Bon Iver und Sam Smith. „Sellout!“, möchte man ihm aus dem authentisch modrigen Rave-Keller heraus entgegenschreien! Tja, nun kommen wir zum Problem: „Friends That Break Your Heart“ ist nicht einfach oberflächlich „schön“. Hier passieren wahrlich transzendentale Dinge. Blake ist einer der wenigen Künstler, die ihren avantgardistischen Habitus auf Stadion-Level heben können, ohne dabei die alten Qualitäten zu verlieren. Seine geisterhaften Falsett-Brisen und Bass-Tupfer sind allesamt noch da, nur jetzt von astralen Harmonien umgeben. Ein Album, das sowohl Raum für solche Experimente und so viel schamlose Schönheit hat, sollte nicht hochnäsig verschmäht werden – dem muss man applaudieren.

Jahrescharts 2021 Platz 11

11. Sleaford Mods – „Spare Ribs

Oberflächlich betrachtet ist „Spare Ribs“ Sleaford Mods‘ Abrechnung mit dem Corona-Jahr 2020. Doch das elfte Album des britischen Punk-Rap-Duos ist noch so viel mehr. Sänger Jason Williamson holt weit aus: Allein der Albumtitel ist ein giftiges Wortspiel, das nicht als das wörtliche Fleischgericht zu verstehen ist. Stattdessen bezeichnet er die „Ersatz-Rippen“, die die britische Arbeiter*innenklasse für den Kapitalismus darstellt. In dem der Mensch zum schieren Ersatzteil verkommt. „You really don’t know what they’ve probably got / They’ve got your arms if you resist the trot“, rappt Williamson, diese These unterstützend, in „Shortcummings“.
Andrew Fearns Beats sind auf diesem Album noch ein bisschen schmutziger als sonst, vom hysterisch über sich selbst stolperndem Intro „The New Brick“ bis zum in der tiefsten Gosse groovenden „Out There“. In diesem zieht Williamson eine direkte Verbindung von der Quarantäne-Angst zum Brexit: „Watch ‚em get depressed under the lockdown stress / Little slap headed cunt, get Brexit punched / Let’s get Brexit fucked by an horse’s penis until its misery splits / Ugly rich white men get shagged by it.“ Die Worte sind drastisch bis extrem, doch die Aussage sitzt. Doppelmoral ist ein Gift. Gut, dass es Sleaford Mods gibt, um es immer mal wieder ein bisschen abzusaugen.

Jahrescharts 2021 Platz 10

10. Benny Sings – „Music

Alles, was Benny Sings anfasst, ist tiefenentspannt. Man könnte den Niederländer als einen Meister des Tiefstapelns bezeichnen: Van Berkestijn, wie er mit bürgerlichem Namen heißt, spielt den möglicherweise unaufdringlichsten R&B dieser Tage – und erreicht mit dieser Zurückhaltung ein maximal pointierteres Ergebnis. Auf einem Benny-Sings-Album klingt jeder Ton weich. „Music“, seine siebte LP, ist da keine Ausnahme. Sie beginnt mit „Nobody‘s Fault“, das mit glänzenden Pianos und federleichtem Groove an den West-Coast-Sunshine-Pop der 70er-Jahre erinnert. Van Berkestijns Stimme klingt vorsichtig, mehr geflüstert als gesungen. Selbst das verzerrte, von Gastmusiker Tom Misch beigesteuerte Gitarrensolo ist unfassbar sanft. Diese Musik strahlt wie Katzengold, nicht teuer oder glamourös, sondern einfach schön.

Jahrescharts 2021 Platz 9

9. Masha Qrella – „Woanders

Das auf den ersten Blick ungriffigste Element von „Woanders“, dem ersten Masha-Qrella-Album in deutscher Sprache, sind die Texte: Diese stammen allesamt vom in Feuilleton-Kreisen gefeierten, aber in der Popkultur wenig präsenten DDR-Dichter Thomas Brasch. Qrella umarmt auf „Woanders“ die Zeilen Braschs mit einer Mischung aus kühler Elektronik und warmen Gitarren, ausschweifend den Äther erkundenden Synthesizern und nah am Ohr klebendem Gesang. Sie bringt seine Verse zum Singen. Aus Sätzen wie „Ich besinge die Rinde der Bäume und warte bei Dir“ wird Musik für nachmitternächtliche Stadt-Spaziergänge. Dunkel, wabernd, mysteriös. „Woanders“ eine Utopie zu nennen, fühlt sich nicht ganz richtig an. Dafür ist das Album zu introspektiv, zu verträumt. Doch ein faszinierender Zwischenraum, in dem Künstler*innen unterschiedlicher Generationen gemeinsam wunderbare Kunst erschaffen, ist es auf jeden Fall.

Jahrescharts 2021 Platz 8

8. Anika – „Change

Annika Henderson wartet. Darauf, dass endlich irgendetwas durchbricht. Das singt sie jedenfalls zum Ende ihres neuen Albums „Change“. „Be patient for something new / Don’t hold on to the past, it’ll take you down“, singt die britisch-deutsche Musikerin, die sich als Künstlerin schlicht Anika nennt, im selben Song. Geduldiges Warten scheint ihr zu liegen – schließlich ist „Change“ ihr erstes Soloalbum seit elf Jahren. Das „Durchbrechen“, das Henderson erwartet, ist die dem Album seinen Titel gebende Veränderung. Sie singt Lieder über die Ermächtigung von unterdrückten Bevölkerungsgruppen („Rights“), den Kampf gegen toxische Männlichkeit („Critical“) und die unausweichlich scheinenden Konsequenzen des Klimawandels („Never Coming Back“). Das tut sie nicht mit Ernüchterung oder Wut. Sondern mit Optimismus. Mit Hoffnung. Es ist nicht zu spät, sagt sie. Das wird viel zu selten gesagt.

Jahrescharts 2021 Platz 7

7. Altın Gün – „Yol

Altın Güns Musik ist eine Begegnung. In vielerlei Hinsicht: Das niederländisch-indonesisch-türkische Sextett ließ auf seinem Debüt „On“ und dem Nachfolger „Gece“ alte Volkslieder und Obskuritäten auf eine multikulturelle Gegenwart prallen. Anatolische Standards wurden in hochpräzisen 70er-Jahre-Funk übersetzt. Für ihr Album „Yol“ haben sie sich ein paar ziemlich geniale Tricks ausgedacht, die ihre diesjährige Sammlung von abenteuerlichen Neuinterpretationen von den vorigen absetzt.

„Yol“ beginnt mit einer auf 30 Sekunden komprimierten Version des türkischen Folk-Songs „Bahçada Yeşil Çınar“, das weniger nach Funk-Party, sondern mehr nach vom Hall verwaschener 80er-Jahre-Erinnerung klingt. „Ordunun Dereleri“ führt die Reise ins Schulterpolster-Jahrzehnt fort. Erdinç Ecevit singt über glitzernde Synthesizer und programmiert klingende Drumbeats. Auf „Gece“ experimentierten Altın Gün bereits mit Synth-Pop und New Wave, doch so viel Duran Duran wie hier ließen sie noch nie zu. Distanziert ist hier gar nichts. Alles ist eine organische Begegnung.

Jahrescharts 2021 Platz 6

6. Dry Cleaning – „New Long Leg

Die britische Band Dry Cleaning spielt Post-Punk für Tee-Trinker*innen. Das ist kein müdes Vorurteil gegenüber ihrem Herkunftsland. Die Musik von Sängerin und Texterin Florence Shaw, Bassist Lewis Maynard, Gitarrist Tom Drowse und Schlagzeuger Nick Buxton animiert nicht zum Pöbeln mit Bierflasche in der Hand oder zum wütenden Faust-in-die-Luft-Recken. Dry Cleaning rasten nicht aus und brechen auch nicht zusammen. Sie beobachten. Und lehnen sich zurück. Auch wenn Shaw bizarre Situationen aus der Ich-Perspektive beschreibt, wirkt sie, als würde sie Monate später davon berichten – und nicht mitten im Geschehen sein.
Und dennoch, trotz all der lakonischen Distanz, fesselt „New Long Leg“ von der ersten Sekunde. Das liegt einerseits an Shaws wundervollen Texten. Im Opener „Scratchcard Lanyard“ beschreibt sie präzise und witzig zugleich jugendliche Seltsamkeit:„I’ve come here to make a ceramic shoe / And I’ve come to smash what you made.“ In „Strong Feelings“ haut sie betörend seltsame Sätze über menschliche Zweisamkeit heraus: „My only ambition in life is to grip the roots of your hair / You just want to be liked.“ So meisterhaft subtil vergiftete Zeilen wie diese lauern in jedem der zehn Songs von „New Long Leg“.

Jahrescharts 2021 Platz 5

5. The Notwist – „Vertigo Days

The Notwist sind eine Band wie ein Uhrwerk. In vielerlei Hinsicht. Seitdem die Weilheimer mit ihrem 2002er Introvertiertheits-Meisterwerk „Neon Golden“ zu international gefeierten Kritikerlieblingen wurden, arbeitet die Gruppe um die Brüder Markus und Micha Acher in einem äußerst zuverlässigen Rhythmus. Alle sechs Jahre erscheint eine neue Studio-LP. Etwas mehr als sechs Jahre nach „Close To The Glass“ demonstrieren The Notwist ihre neueste Konstruktion. Sie heißt „Vertigo Days“. Ihr achtes Studioalbum (Experimente und Soundtracks wie „Storm“ und „The Messier Objects“ ausgenommen) kommt als besonders vertracktes Exemplar daher: Die Songs greifen wie Zahnräder ineinander, ergeben ein frickeliges Ganzes. Schnipsel und Elemente werden etabliert und wieder aufgegriffen. Analoge Bläser und Streicher kreisen um elektronisches Geblubber und stoische Grooves. Auf „Vertigo Days“ liefern sie umwerfende Momente im Minutentakt.

Jahrescharts 2021 Platz 4

4. Greentea Peng – „Man Made

Aria Wells liebt Sound. Das ist unter Musiker*innen erst einmal nichts Besonderes, sollte man meinen. Auch, dass die unter dem Namen Greentea Peng auftretende Britin explizit über diese Liebe singt, mutet erst einmal nicht sonderlich originell an. Die Streamingplattformen sind gefüllt mit Liedern über die Macht der Musik, über die Kraft der Klänge. „This Sound“, der zweite Song von Wells‘ Debütalbum „Man Made“, ist genau so eines. „This sound is physical / It’s very physical“, rappt sie da. „But metaphysical and mystical / And though we not in your peripheral / Would find it difficult to miss you.“ Warum darüber schreiben, wenn das alles gar nicht so originell ist? Weil man Wells diese Liebe nicht nur abnimmt, sondern weil sie diese Liebe förmlich spürbar macht. „Man Made“ mutet wie ein wahre Herzensangelegenheit an, in der viele Jahre Arbeit und Herzblut zusammenlaufen. Wells startete ihre musikalische Karriere auf Open-Mic-Stages, mittlerweile kann sie ihren psychedelischen R&B mit meisterhafter Band im Rücken auf die Bühne und ins Studio bringen. Das Ergebnis klingt schlichtweg so gut, dass sich Gänsehaut und Wohlgefühl ständig abwechseln.

Jahrescharts 2021 Platz 3

3. Sophia Kennedy – „Monsters

Sophia Kennedy ist, im deutschen (Indie-)Pop-Kosmos, wahrlich allein. Sie spielt keinen edgy Post-Punk, keinen nostalgisch verklärten Neo-Chanson, keinen Synth-Pop, keinen glamourösen Noir-Pop. Ihre Musik ist amorph, stetig mutierend. An der Grenze zwischen Avant- und Indie-Pop, ständig ihrem Publikum einen Schritt voraus – und in der hiesigen Musiklandschaft einzigartig. m Verlauf der 13 Songs von „Monsters“, die sie erneut zusammen mit ihrem Kreativpartner Mense Reents (Die Goldenen Zitronen, Die Vögel) aufgenommen hat, verweigert sich Kennedy beharrlich allen Schubladen. Der Opener „Animals Will Come“ ist ein windschiefes, von schrägen Synthesizern zerfressenes Stück R&B. „Orange Tic Tac“ wäre mit seinem unwiderstehlichen Shuffle-Beat, unverschämt eingängigen Sample-Hooks und Kennedys meisterhaftem Swagger in einer gerechten Welt ein Mainstream-Pop-Hit.

Jahrescharts 2021 Platz 2

2. International Music – „Ententraum

Vor drei Jahren waren sie plötzlich da. Drei Erpel aus dem Ruhrgebiet, die derart unanständig eingängige Indie-Rock-Songs spielten, dass man ihnen gar nicht ausweichen konnte. Ihre Namen waren Peter Rubel, Pedro Goncalves Crescenti und Joel Roters. Ihre Band hieß International Music, und ihr Debütalbum „Die besten Jahre“. 17 Songs, die in ihrer Gesamtheit so ziemlich alle namhaften „Best-of“-Jahresendlisten der deutschen Musiklandschaft dominierten. Seit dieser Veröffentlichung stellte sich eine essenzielle Frage: Was kommt nach „Die besten Jahre“? Die Songs dieses Albums (und von „Nenn mich Musik“, dem Album des International-Music-Ablegers The Düsseldorf Düsterboys) waren bereits einige Jahre alt. Ein großer Aspekt ihres Charmes war ihre ungeschliffene Seltsamkeit. Können Rubel, Crescenti und Roters diese Magie auch unter dem neuen Öffentlichkeitsdruck vollbringen?
Die Antwort ist keine Überraschung und doch eine Erleichterung: Ja. „Ententraum“, das zweite Album von International Music, ist mindestens genauso gut wie sein Vorgänger. Für dieses Urteil muss man nicht viel mehr hören als den ersten Song: Das Trio meistert darin erneut den Balanceakt zwischen Albernheit und Melancholie, zwischen unzugänglicher Weirdness und unaufdringlicher Catchyness. Der Song heißt „Fürst von Metternich“ und er ist gleichzeitig so doof wie sein Titel und so wunderbar wie die schönste Popmusik. Genau wie „Die besten Jahre“ ist „Ententraum“ 17 Songs und über eine Stunde lang. Keine Minute wird verschwendet. International Music wagen sogar noch ein paar mehr Experimente als beim letzten Mal. Eines ist klar: Diese drei Erpel sind gekommen, um zu bleiben.

Jahrescharts 2021 Platz 1

1. Little Simz – „Sometimes I Might Be Introvert

Wie klingt Introvertiertheit? Definitiv nicht so wie „Introvert“, der Song, der „Sometimes I Might Be Introvert“, das aktuelle Album von Little Simz eröffnet. Die ersten Töne ihrer mittlerweile vierten LP klingen triumphal. Snare-Drums trommeln einen pompösen Marsch. Die Bläser spielen erhebende Fanfaren. Und wenn die Londoner Rapperin mit ihrem ultrapräzisen Flow die Szenerie betritt, klingt das nicht wie der innere Monolog einer introvertierten Person – sondern wie die Ankunft einer Königin.
Doch dann hört man dem Text zu. „I need a licence to feel / Internal wounds and I’m not tryna be healed“, heißt es da. Simbiatu Ajikawo, wie Little Simz mit bürgerlichem Namen heißt, rappt mit dominierendem Selbstbewusstsein. Doch die Worte sprechen eine andere Sprache. Diese Dissonanz zwischen Text und Musik ist natürlich gewollt. Little Simz hat das opulenteste Album ihrer Karriere geschaffen. Ein vor Details überbordendes Stück HipHop-Kunst, das in vielen Momenten durchaus an Deltron 3030s selbstbetitelten Barock-Rap-Meilenstein erinnert. Es ist nicht nur ihr musikalisch aufwändigstes Album, es wirkt auch wie ihr intimstes. „Sometimes I Might Be Introvert“ mag opulent und vielleicht auch ein bisschen größenwahnsinnig klingen, aber es verliert nie den Boden unter den Füßen.

Bild mit Text: „Ja ich will Radiokultur unterstützen“ / „Freunde von ByteFM“</“https://www.byte.fm/freunde/mitglied-werden/“a>

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