The Slits – „Cut“
Als Daniela Reis und Fritzi Ernst alias Schnipo Schranke vor vier Jahren von Pissegeruch im Genitalienbereich sangen, rümpfte eigentlich niemand so recht die Nase. Eher entwich dem einen oder der anderen ein amüsiertes Lächeln. Welche Tragweite es jedoch hat, den Fokus auf derart tabuisierte Bereiche zu richten, wird deutlich, wenn man sich an eine Zeit erinnert, in der es hiermit um mehr ging als bloße Pose und Unterhaltung.
Für die Punk-Pionierinnen The Slits war auf die Bühne zu pinkeln oder sich gebrauchte Tampons ans Ohr zu hängen Ausdruck eines Befreiungsschlags. Und eine Kampfansage an das männliche Establishment. Ihr Debütalbum „Cut“ wird heute, am 7. September 2019, 40 Jahre alt. Mit Wegbereiterin Patti Smith im Rücken forderten Gitarristin Viv Albertine, Bassistin Tessa Pollitt und Sängerin Ari Up eine Musikwelt heraus, in der Frauen bestenfalls im zweiten Rand vor der Bühne Geltung hatten – oder hinter der Bühne als After-Show-Unterhaltung. Es war die Hochzeit des Punks, aus der The Slits hervorgingen. Und von deren Nabelschnur sie sich zugleich abtrennen wollten.
Im Lendenschurz gegen das Patriarchat
Angefangen hat alles inmitten der damaligen Punkszene in London. Aris Mutter Nora heiratet 1979 den Ex-Sex-Pistols-Sänger John Lydon. Früh in Berührung mit den Ursprungswellen des Punk, entschließt sich Ari Gitarre zu lernen. Auf einem Konzert von Patti Smith lernt sie die zukünftige Schlagzeugerin Paloma Romero alias Palmolive kennen, die zeitweise die Freundin von The Clashs Joe Strummer war. Mit ihr war die Band komplett. Bis es 1979 ins Studio für die Aufnahmen von „Cut“ geht – allerdings ohne Paloma Romero, sondern mit Peter Edward Clarke alias Budgie an den Drums– , teilten die Musikerinnen die Bühne mit Acts wie The Clash oder Buzzcocks. Die Erfahrungen, die sie hierbei machten, trieben sie an, ihren eigenen Stil zu finden.
Auf „Cut“ treffen Dub-Reggae-Rhythmen auf rohen Punk-Sound. Diese eigenwillige Verbindung zweier musikalischer Welten kam nicht von ungefähr. Denn es ging darum, sich ganz klar von den männlichen Kollegen abzugrenzen: „Wir wollten auf keinen Fall männliche Rhythmen spielen“, erklärte Viv Albertine. Sieht man sich die Reaktionen auf das Album an, verwundert dieser Abgrenzungswunsch nicht. „Cut“ hat nicht nur für Irritationen gesorgt, sondern regelrechten Hass geschürt. Hier waren plötzlich Frauen in einer Rolle zu sehen und zu hören, die bis dahin ausschließlich Männern vorbehalten war. Und dass diese Frauen sich nun auch noch nackt, mit Schlamm beschmiert und im Lendenschurz ablichten ließen, schien die Grenzen des Tolerierbaren zu sprengen.
Auf der Suche nach der eigenen Stimme
Indem sie sich den traditionellen Frauenbildern widersetzten, legten The Slits wie von selbst die Engstirnigkeit und Misogynie des vermeintlich freiheitsliebenden Punks offen: „Sie wussten nicht, ob sie uns ficken oder töten sollen“, fasste Viv Albertine die spürbare Verachtung ihres Publikums einmal zusammen. Der Song „Typical Girls“ nimmt direkt Bezug auf das damals vorherrschende Frauenbild: „Don’t create / Don’t rebel / Have intuition / Can’t decide.“ Mit anderen Worten: Wage es nicht, für Dich zu sprechen und eine eigene Stimme zu finden.
Diese eigene Stimme verkörpert „Cut“. Hier fordert Leadsängerin Ari Up in „Shoplifting“ zum Ladendiebstahl auf. In „Spend, Spend, Spend“ hält sie dem kapitalistischen Ablenkungsmanöver den Spiegel vor. Shoppen wird als Betäubungsmittel einer unausgedrückten Traurigkeit entlarvt. Und in „Ping Pong Affair“ wird auch das letzte bisschen der männlichen Deutungshoheit zum Stottern gebracht: „Same old thing, yeah I know / Everybody does it“. Selbstbefriedigung. Männersache? Von wegen. Auch die Verherrlichung des Heroin-Konsums ihrer männlichen Kollegen wird unter die Lupe genommen: „He is a boy / He’s very thin / Until tomorrow / Took heroin / Don’t like himself very much / ‚Cause he’s set to set to self-destruct“, heult es einem in „Instant Hit“ entgegen. Und in „So Tough“ werden John Lydon und Sid Vicious explizit beim Namen genannt.
Auch wenn nach wie vor die Anarchy in the U.K. den Sex Pistols zugeschrieben wird. Das Erbe der Slits ist groß. Für die Riot-Grrrl-Bewegung aus den frühen 90er-Jahren sind sie wegweisend. Und sieht man sich die gegenwärtige Musiklandschaft an, bleibt zu hoffen, dass dieses Erbe mehr als museales Insider-Wissen bleibt, sondern der in ihm aufbewahrte Geist der Rebellion immer wieder zu neuem Leben erweckt wird. Hüte sich, wer meint, wir wären hiermit jemals fertig: „Stop, we won‘t stop / Don‘t you stop / I can‘t live if you stop“. (Le Tigre, „Hot Topic“)