Der Schallplattentourist

Ich bin ein Schallplattentourist. Nichts gegen das Tate Modern oder den Eiffelturm. Aber meine Souvenirs kommen eher nicht aus Andenkenkiosken. Ich werde nie vergessen, wie ich das erste „Lakeside“-Album in Tokio gefunden habe oder die ultraseltene Little Jimmy Scott-Platte auf Ray Charles’ Tangerine-Label im New Yorker Greenwich Village. Aber warum in die Ferne schweifen?

Meine Berlinbesuche gipfeln nicht selten in einem Besuch des Record Store in der Brunnenstraße in Mitte, schräg gegenüber vom U-Bahnhof Rosenthaler Platz. Der helle Laden mit den großen Schaufenstern und den prall gefüllten Holzkisten mit eingebrannter Genrebezeichnung wirkt auch nach Jahren noch wie neu. Aber schon beim ersten Besuch wies mich Thorsten, der geneigte Gralshüter dieses Schallplattenschlaraffenlandes, darauf hin, dass an dieser Stelle früher die „Amiga“-Studios standen. Das heutige Angebot hat damit allerdings so gut wie nichts zu tun und wäre vor zwanzig Jahren undenkbar gewesen – nicht nur in Ostberlin. Ich kenne keinen Plattenladen diesseits des Atlantiks, der so viele rare US-Vinyle aus den 50er, 60er und 70er Jahren im Angebot hat, egal ob Jazz, Blues oder Latin, von mexikanischen Entertainern oder kalifornischen Rock-Avantgardisten. (Auch der Jazztrompeter Roy Hargrove, den ich dort einmal für die Jazz thing-Serie „Im Plattenladen mit …“ interviewte, war außer sich. Und kaufte gleich mehrere LPs, obwohl er selbst keinen Plattenspieler besitzt.)

Beim ersten Mal – mein Freund Frank, der um zwei Ecken vom Record Store wohnte und dort für gewöhnlich samstags seine britischen Musikzeitschriften einholte, hatte mich mitgeschleift – hörte ich mich durch sechs oder sieben Alben der West-Coast-Jazzsängerin June Christy und entschied mich schließlich für „Ballads For Night People“ – für konkurrenzlose 12 Euro. Beim letzten Mal, vor ein paar Wochen, fand ich unter anderem zwei Verve-Originale aus den 50ern von Bud Powell und Chico O’Farrill. Wenn ich jetzt, zuhause in Hamburg, etwa „Bud Powell’s Moods“ auflege, denke ich auch immer ein bisschen an die Hauptstadt. Ganz ohne Fernweh. Ich weiß ja, dass ich theoretisch in gut zwei Stunden wieder im Record Store auf der Matte stehen könnte. Wenn ich dann schon mal da bin, kann ich ja anschließend noch den Fernsehturm oder eine der Nationalgalerien besuchen.

Der Record Store befindet sich in der Brunnenstraße 186 in 10119 Berlin.

Anlässlich der Plattenladenwoche präsentieren unsere Moderatoren eine Auswahl der vielen wichtigen Plattenläden aus allen Ecken der Bundesrepublik. Unser Autor Götz Bühler moderiert bei ByteFM die Sendungen Die runde Stunde und das Jazz thing Mixtape.

Das könnte Dich auch interessieren:

  • Plattenladenwoche
    Die Plattenladenwoche ist eine vom 21. bis zum 26. Oktober stattfindende, einwöchige Veranstaltungsreihe von und für Vinylliebhaber. Die beteiligten Plattenläden dienen als Bühne für In-Store-Gigs oder Showcases. Den Auftakt macht dieses Jahr eine Veranstaltung im Hamburger Mojo Club....
  • Presseschau 12.10.: Schwanger oder doch nicht?
    Heute in der Presseschau: Gerüchte um die (Nicht)-Schwangerschaft von Beyoncé, ein südkoreanischer "modern-day-Elvis", 10 Jahre Daptone Records, eine biografische Singles-Compilation der Manic Street Preachers und die Plattenladenwoche in Deutschland!...
  • ByteFM präsentiert die Plattenladenwoche
    Die Plattenladenwoche 2010 läuft. Es locken Konzerte und limited Editions zum Besuch des heimischen Record Shops. Plan B, Fettes Brot und Maximo Parks Paul Smith wollen, dass wir powershoppen. Trust your local dealer und nimm' das ein oder andere Schaufensterkonzert oder eine rare 7-inch mit....


Deine Meinung

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert.