Joanna Newsom – „Divers“ (Drag City)
Stellt man bei seinen Songs ein Instrument wie die Harfe in den Mittelpunkt, kommen Zuschreibungen wie „nicht von dieser Welt“ schneller als in die Saiten gegriffen werden kann. Joanna Newsom hat vielerlei solcher Charakterisierungen erhalten – wegen ihrer hohen, fragilen Stimme, ihrer bedächtig arrangierter Lieder und ihrer klassischen Schönheit. Die Kalifornierin ist eben eine Erscheinung, aber ihre Musikstücke sind keine Wolkengebilde. Woher, wie welche melodischen und vor allem textlichen Anleihen kommen, das bedenkt die 33-jährige Musikerin genau.
Fünf Jahre sind seit Newsoms letztem Album vergangen. Der über zwei Stunden lange Dreiteiler „Have One On Me“ hielt Begegnungen mit E-Gitarre und Blues und kräftige, schnelle Momente bereit, wie etwa den sich auf mitreißende Art steigernden Popsong „Good Intentions Paving Company“. Ihre vierte Platte „Divers“ wirkt hingegen auf den ersten Eindruck wie eine zarte Pflanze. Kammermusik, Renaissance-Stimmung, Ragtime und Waltzer klingen auf diesem heterogenen Album durch, werden schmale um schmale Schicht verwoben.
Joanna Newsom greift neben Harfe und Klavier zu Mellotron, Cembalo, Minimoog, einer Zither mit dem schönen Namen Marxophon und zu Vogellauten. Über zwei Jahre hat sie an den Arrangements von „Divers“ gearbeitet, Newsom trug eine bestimmte Vorstellung davon mit sich, wie sich die Harmonien auf dem Album von Lied zu Lied verschieben. Anhand dieses Gerüstes entstanden elf feingliedrige, einnehmende Stücke, aufgenommen von Hardcore-Größe Steve Albini und Noah Georgeson, der bisher an jedem von Newsoms Alben beteiligt war.
Die Fragilität auf „Divers“ nimmt oft an Schwung auf, wird zu kleinen Stürmen, so wie im von sanften Klavier- und Streichertönen getragenem Opener „Anecdotes“, der mit tänzelnden Pianofiguren über weiten Klangflächen endet. Ein großes Maß an Leichtigkeit erreicht Newsom mit „Sapokanikan“. Dessen Text ist – wie es bei der Künstlerin üblich ist – reich an Metaphern und verschachtelten Bedeutungsebenen, ein kleines Rätsel, das Gedichte, einen Unfallbericht und alte Landkarten zitiert. „The Things I Say“ kommt fast nur mit Klavier und Stimme aus, klingt nach Fernweh, nach Shantys, ein Gefühl, das durch gespenstische Synthesizer-Windungen verstärkt wird.
Im letzten Stück auf „Divers“, in „Time, As A Sympton“, taucht der schon genannte Vogel auf. Es ist der Klagegesang einer Taube, der sich zwischen Newsoms entschlossenen Gesang drängt und im dramatisch-beschwingten, orchestralen Schlussteil immer präsenter wird. Dieser Laut begleitete die Musikerin in ihrer Kindheit, mithilfe einer Vogelkundlerin fand sie ihn wieder. Ein Teil des in vielen Farben schimmernden, textlich und melodisch faszinierenden Puzzles, das „Divers“ ist.
Veröffentlichung: 22. Oktober 2015
Label: Drag City