„Let England Shake“ von PJ Harvey wird zehn Jahre alt

Bild des Albumcovers von PJ Harveys „Let England Shake“, das am 14. Februar 2011 zehn Jahre alt wird.

PJ Harvey – „Let England Shake“ (Island Records)

Es fällt leicht, Kunst prophetische Wirkung zuzuschreiben. Das liegt in der Natur des Zurückschauens. Die Welt ist chaotisch – und im Blick zurück versucht der Mensch, das Vergangene zu ordnen. Eine unlogische Geschichte in eine logische Form zu pressen. So kann Radioheads digitaler Albtraum „Kid A“ als klare Warnung vor digitaler Entfremdung gelesen werden, obwohl es fast ein Jahrzehnt vor der Social-Media-Ära erschien. Oder ein seltsames obskures Nischen-Album wie „The Velvet Underground & Nico“ als „Geburtsstunde des Punk“ ausgelegt werden, obwohl es The Sex Pistols oder The Ramones wahrscheinlich nie gehört hatten.

In diesem Sinne hat Polly Jean Harvey das definitive Album über das Brexit-England veröffentlicht – über ein halbes Jahrzehnt vor dem Referendum. Heute, am 14. Februar 2021, wird ihr achtes Studioalbum „Let England Shake“ zehn Jahre alt.

Hässlich und umarmend

Eine Dekade später schockiert vor allem, wie betont hässlich die Britin ihre Musik klingen lässt. „Let England Shake“ ist in der Form ein Folk-Album, gefüllt mit Autoharps, Chören und Akkordfolgen, die wie uralte Traditionals anmuten. Folk-Musik in seinen klischeehaften Assoziationen ist: Lagerfeuer, Akustikgitarre, Hütte im Wald. Doch „Let England Shake“ ist nicht warm, es ist mitunter bitterkalt. Der Sound ist klaustrophobisch, beengend. „The Words That Maketh Murder“ droht jede Sekunde, in sich selber zu kollabieren. Die Autoharp im Titelsong ist verstimmt, fast schon garstig. Das von einer Lagerfeuergitarre getragene „England“ klingt nicht gemeinschaftlich, sondern einsam und verzweifelt. Später setzen Violinen ein, die wie über eine Kreidetafel kratzende Fingernägel klingen.

Diese Hässlichkeit ist nicht das dominierende Element dieses Albums. Viele Songs sind tatsächlich sehr schön, wie das auf umarmenden Akkorden aufgebaute „All And Everyone“, oder die wie auf Zehenspitzen gesungene Piano-Ballade „Hanging On The Wire“. Doch die gewollte Hässlichkeit ist ein notwendiger Kontrapunkt zu den Texten, den möglicherweise besten von Harveys Karriere.

Glorreich und verbittert

Harvey war schon immer eine spitzfedrige Poetin. Auf ihrem ultrarohen Debüt „Dry“ sezierte sie die patriarchale Doppelmoral. Auf „To Bring You My Love“ schrieb sie Liebeslieder von apokalyptischem Ausmaß. Doch „Let England Shake“ ist ein ganz anderes Biest: Ein Epos in zwölf Akten über Krieg, Rassismus und ihre Heimat, England. In „The Last Living Rose“ beschreibt sie dieses Land aus der Perspektive eines Menschen, der sich vor den „ gottverdammten Europäern“ ekelt und eine glorreiche Vergangenheit zurückwünscht. „Let me walk through the stinking alleys / To the music of drunken beatings“, wünscht sich ihr Protagonist. Dieses nostalgisch verklärte Bild dekonstruiert sie in „The Glorious Land“ mit brutalen Worten: „What is the glorious fruit of our land? / It‘s fruit is deformed children.“

Immer wieder singt Harvey vom Krieg, die logische Konsequenz dieses Hasses. Schützengräben aus lange vergangenen Weltkriegen ziehen sich wie Narben durchs Land, wie sie in „On Battleship Hill“ beschreibt: „On Battleship Hill’s caved in trenches / A hateful feeling still lingers.“ Ein weiteres Bindeglied ist Bitterkeit: „England, you leave a taste / A bitter one“, singt sie in „England“. In „Bitter Branches“ strecken sich die Arme von Soldaten wie vergiftete Zweige in die Welt.

Die, in ihren Worten, von Bitterkeit angetriebenen Menschen, die Harvey in „The Last Living Rose“ und anderen Momenten dieses Albums beschreibt, sollten fünf Jahre später für den Austritt ihrer Heimat aus der EU abstimmen. Das macht „Let England Shake“ nicht zu einem prophetischen Kunstwerk. Harvey zog Brücken von der blutigen Vergangenheit zu einer chaotischen Gegenwart. Diese Art von Kunst ist allgemeingültig, nicht an Zeit gebunden.

Veröffentlichung: 14. Februar 2011
Label: Island

Bild mit Text: Förderverein „Freunde von ByteFM“

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