Tyler, The Creator – „Igor“ (Rezension)

Cover des Albums „Igor“ von Tyler, The Creator

Tyler, The Creator – „Igor“ (Columbia)

8,9

Die Geburt von „Igor“ geriet typisch für Tyler, The Creator, dem De-Facto-Kopf der HipHop-Gang Odd Future. Kurze, schräge Videos von einem blond-perrückten Typ, unterlegt mit Appetit anregenden Sound-Bits. Im Netz wurde gerätselt: who the fuck is Igor? „Igor“ – das sechste Album des US-Rappers und -Produzenten – ist das Zeugnis, dass die kreative Odyssee von Tyler Okonma, diesem Antihelden und gleichzeitig warmherzig-verletzlicher Kindskopf, wieder einen neuen Höhepunkt erreicht hat. Stimmig wie nie hat Tyler, The Creator ein Album geschrieben und produziert, das trotz schillernder Facettenaugen einen direkten Blick auf das größte All-Time-Classic der Menschheit wirft: die Liebe.

Zum Release von „Igor“ forderte Tyler uns im Netz dazu auf, sich für die 39 Minunten Spielzeit mal nur uns selbst und seinem Album zu widmen. Tyler will, dass wir fühlen. Gleich im Opener prophezeit uns der Protagonist: „They gon‘ feel this one“. Igor stellt sich als blonder Pilzkopf mit black shades dar, wandelt zwischen Liebe und Entwöhnung. Und er reißt mit. Das Album verleiht Tylers Verletzlichkeit neue Deutlichkeit („Puppet“), umarmt queere Liebe („A Boy Is A Gun“) und feiert das Gescheiterte („Gone, Gone / Thank You“).

„Igor“ verbindet Gegensätze

Zwischen Entrücktheit und Klarheit verbindet das Album Gegensätze: Böse Synth-Bässe und Drums klingen so deformiert wie die düsteren Episoden von Eifersucht („New Magic Wand“) oder von emotionaler Manipulation und zerstörerischer Selbstaufgabe („Puppet“). Die tragenden Soul-Melodien und wolkigen R&B-Akkorde sind längst keine bloße Hommage mehr an Vorbilder wie Pharrell. Sie halten das Gefährt ständig in Bewegung, verschmelzen mit Chören oder zerren nahtlos Glücksgefühle in die Melancholie.

Ein Beispiel für Tylers unnachahmliche Evolution als Producer offenbart „What’s Good“. Hier bricht ein antiquiertes Gruselfilm-Thema auf und presst sich in harten Grime-Rap, um dann zu einem sphärischen Jazz-Fusion-Trip zu werden – in gerade mal 45 Sekunden. Diese und ähnliche Transitionen gelingen ohne die Brüche, die bei Tylers 2015er Platte „Cherry Bomb“ noch kritisiert wurden. Im Gegenteil: Ambition und Produktion liegen sich auf „Igor“ schwelgend in den Armen.

Einfachheit und Komplexität

Tyler versucht den Spagat zwischen kurzweiliger „Spotifyability“ und komplexen Songstrukturen. Das Album ist für diejenigen eine Goldmine, die Spaß am Schürfen haben. Dafür sind Titel und Themen so einfach formuliert, dass kaum jemand verschreckt wird, der gar nichts finden will. Dabei gibt es neben einer Schar an ungenannten Gästen, vor allem lyrische Schätze zu hören. Wer die Anspielung auf homosexuelle Romantik entdeckt („I wish you would call me/By your name cause I’m sorry/This is not apology”, in „I Think“) oder die Referenz zu Erykah Badu versteht („My eyes are green / I eat my veggies“, in „New Magic Wand“), hat das Prunkstück gefunden: Tylers Liebe zum Detail.

Tyler, The Creator hat bei der Komposition nochmal zugelegt, die Kanten des Vorgängers „Flower Boy“ (2017) geglättet, ohne zu verstumpfen und damit wohl endgültig den Status eines kreativen Unikats erarbeitet. Und das ist nicht selbstverständlich, wenn man sich erinnert, wie undankbar KritikerInnen damals auf „Cherry Bomb“ reagiert hatten. Tylers Forderung, dass wir genau zuhören sollen, ist vielleicht auch dieser Erfahrung geschuldet und offenbart damit die große Angst von „Mr. Lonely“, nicht verstanden zu werden. Seine Warnung „don’t go into this expecting a rap album [or] any album“ hätten wir nicht gebraucht. „Igor“ ist ein Tyler-Album – und sein stärkstes zu diesem Zeitpunkt.

Veröffentlichung: 17. Mai 2019
Label: Columbia

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