Die Nerven – „Die Nerven“ (Rezension)

Cover des Albums „Die Nerven“ von Die Nerven.

Die Nerven – „Die Nerven“ (Glitterhouse Records)

8,0

Auf das neue Album von Die Nerven konnte man durchaus gespannt sein: Immerhin sind vier Jahre seit ihrer letzten Veröffentlichung „Fake“ vergangen. Ein Album, das damals einen Bruch mit ihrer musikalischen Komfortzone und eine Steigerung ihrer Bekanntheit über Szenegrenzen hinaus bedeutete. Seitdem war Gitarrist und Sänger Max Rieger vor allem als Produzent tätig und das für Musiker*innen wie Ilgen-Nur, Drangsal oder Casper. Also weit weg vom Sound seiner eigenen Band. Obendrauf wurde das neue Album der Stuttgarter als selbstbetiteltes „schwarzes“ Album angekündigt. Was ja meist ein Hinweis auf eine musikalische Neujustierung einer Band ist.

Die ganz radikale Zäsur bleibt auf dem „schwarzen Album“ aber aus. Vielmehr gehen die Nerven konsequent den Weg weiter, den sie mit „Fake“ eingeschlagen haben: Weg vom rohen Lärm, hin zu strukturierten Popsongs mit einem Sound irgendwo zwischen Post-Punk und New Wave. Waren sie schon grundsätzlich eher keine Band für Punk-Purist*innen, hat ihre Musik 2022 praktisch gar nichts mehr mit dem Genre zu tun. Das wird besonders am Anfang der Platte deutlich: Der Opener „Europa“ ist mit seinem gezielten Hin und Her von leisen, akustischen und brachialen, aggressiven Passagen ein voll und ganz durchkomponiertes Stück, das die Dramatik des Textes in Szene setzt.

Zweifel, Verunsicherung, Beklemmung

Auch wenn die Struktur von einem Song wie „Europa“ auf einem der ersten Nerven-Alben nicht denkbar gewesen wäre, ist der Sound weiterhin vertraut und unverkennbar Die Nerven. Auf ihrem fünften regulären Studioalbum verfeinern Max Rieger, Bassist und Sänger Julian Knoth und Schlagzeuger Kevin Kuhn ihren schon immer von Feedback und Hall dominierten Sound zu ihrer ganz eigenen Wall Of Sound. Erstmals war Rieger auch für Produktion und Mixing verantwortlich, was mutmaßlich zum noch einmal cleaneren, gleichzeitig aber auch flächigeren Klang geführt hat. Es wäre naheliegend zu denken, dass durch seinen zusätzlichen Einfluss als Albumproduzent, ein Ungleichgewicht in der Band hätte entstehen können, sodass das neue Album eher zu einem Max-Rieger-Projekt geworden wäre. Das ist aber zum Glück nicht passiert, im Gegenteil: Das „schwarze Album“ klingt mehr denn je nach einer vereinten Band mit zwei sich ergänzenden Sängern. Erstmals singen Julian Knoth und Max Rieger gemeinsam und das auf gleich mehreren Songs. Das bereichert ihren Klangkosmos und verschafft einigen Songs zusätzliche Dynamik.

Besonders herausstechend ist aber, was sie da singen: Zwar erzählen Die Nerven weiterhin keine kohärenten Geschichten, sie schaffen es aber, mit Slogans und Schlaglichtern in kürzester Zeit eine Stimmung zu erschaffen. Und die ist auf dem „schwarzen Album“ besonders düster. Nicht weil sie dramatische Bilder zeichnen würden, sondern weil sie das Leben der (mindestens) vergangenen zwei Jahre mit allen Verunsicherungen, wegbrechenden Zukunftsperspektiven und Beklemmungen nüchtern einfangen. Eine Zeile wie „Und ich dachte irgendwie / in Europa stirbt man nie“ bringt die langsam einsetzenden Zweifel an der Idee von dauerhaftem Frieden und Wohlstand in Europa auf den Punkt. Ähnlich eindrücklich ist es, wenn Rieger in „Keine Bewegung“ gegen eine Gitarrenwand ansingt: „Ich könnte überall hingehen, aber kann mich nicht bewegen.“ Überhaupt schwebt über dem Album ein Gefühl von Machtlosigkeit. Sei es gegenüber politischen Entscheidungen, Algorithmen oder der Marktlogik. Verstärkt wird es durch die musikalische Inszenierung, in der beide Sänger immer wieder gegen den beinahe übermächtigen Lärm ihrer Instrumente ansingen bzw. schreien.

Der Wahnsinn der digitalen Verwertungsmaschinerie

Auch wenn das „schwarze Album“ tatsächlich ziemlich dunkel ist, gibt es auch Momente, die ein wenig Humor zulassen. „Ein Influencer weint sich in den Schlaf“ ist allein durch seinen Titel schon schräg und könnte mit seiner Mischung aus Situationskomik und am Ende doch tragischem Inhalt auch ein guter Soundtrack für ein Sibylle-Berg-Stück sein. Sie schaffen es hier, sich nicht in Sarkasmus oder Social-Media-Kritik zu verheddern, sondern dem Wahnsinn der digitalen Verwertungsmaschinerie im Angesicht einer auseinanderfallenden Welt mit Empathie zu begegnen. Wenn Rieger mantraartig „Es muss weitergehen“ singt, klingt das weder ermutigend noch hämisch, sondern einfach ziemlich traurig. Auch musikalisch fällt der Song mit seinem großzügigem Streicherarrangement (!) aus dem Rahmen und ist die erste richtige Ballade im Schaffen der Band.

Hier zahlt sich die flächige Produktion voll aus und gibt dem Song etwas Monumentales, ohne in Kitsch oder Pathos zu verfallen. An anderen Stellen bewirken Produktion und Mix allerdings, dass gerade die härteren, schnelleren Songs nicht so richtig roh oder kraftvoll klingen. Das gehört sicherlich zum Konzept, lässt das Album aber stellenweise etwas monoton wirken, was aber wiederum auch zum düsteren Gesamteindruck passt.

„Die Nerven“ ist weder textlich noch musikalisch leichte Kost, aber eine stringente musikalische Weiterentwicklung und eine kompromisslose Darstellung der aktuellen, westeuropäischen Lebensrealität irgendwo zwischen Überforderung, Reizüberflutung und Lähmung.

Veröffentlichung: 7. Oktober 2022
Label: Glitterhouse Records

Bild mit Text: „Ja ich will Radiokultur unterstützen“ / „Freunde von ByteFM“

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