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Kramladen Paul McCartney wird 70 mit Volker Rebell

ByteFM: Kramladen vom 07.06.2012

Ausgabe vom 07.06.2012: Paul McCartney wird 70 mit Volker Rebell

“When I’m 70 – Paul McCartney’s Long And Winding Road” – eine Würdigung zum 70. Geburtstag des ewigen Beatle

„Schickst Du mir dann noch immer einen Blumenstrauß, Geburtstagsgrüße und ein Fläschchen Wein? Wirst du mich brauchen, wirst du mich ernähren, wenn ich 64 bin?“ – das fragte Paul McCartney ironisch 1967 in seiner Music Hall-Parodie „When I’m Sixty-Four“ aus dem epochalen Beatles-Album „Sgt. Pepper’s Lonely Hearts Club Band”. Braucht die Popszene ihn heute noch, 45 Jahre nach seinem kreativen Höhepunkt, als der „Sgt. Pepper“ bis heute gilt? Paul hatte die Idee zur Konzeption des Albums und schrieb den Großteil der Songs dieses Ausnahme-Albums, das als künstlerischer Leuchtturm der sechziger Jahre angesehen wird. Doch seit diesem Meilenstein an kreativer Popkunst habe er überwiegend Belanglosigkeiten produziert, Kinderkram wie „Obladi Oblada“ oder „All Together Now“ und Gassenhauer wie „Hey Jude“ oder „Let It Be“, sagen manche Kritiker. Und nach den Beatles habe er auf seinen Wings- und Solo-Platten nie wieder das kompositorische Niveau von Lennon/McCartney-Songs erreicht.

Wer diese Meinung vertritt, ignoriert die überwiegend gelungenen Alben „Band On The Run“ (1973), „Tug Of War“ (1982), „Flowers In The Dirt“ (1989), „Flaming Pie“ (1997), „Driving Rain“ (2001) und „Chaos And Creation In The Backyard“ (2005). Mit elektronisch aufgeladenen, offenen Songstrukturen zeigte sich McCartney 2008 sogar experimentierfreudig im Duo-Projekt The Fireman mit dem Produzenten und Ex-Killing Joke-Musiker Martin Glover alias Youth und deren Album „Electric Arguments“. Wandlungsfähigkeit bewies er im letzten Jahr mit seiner orchestralen Ballettmusik „Ocean’s Kingdom“ und mit seinem aktuellen Album „Kisses On The Bottom“, in dem er Jazz-, Swing- und Vaudeville-Standards der vierziger Jahre mehr als achtbar interpretiert.

Dennoch wird Paul das Image des soften, oberflächlichen Leichtgewichts nicht los, auch wenn er sich dagegen immer wieder zur Wehr setzte: „Ich bin ebenso intelligent wie John“, erklärte Paul 1984 der Washington Post und betonte, er sei „in jeder Hinsicht so tiefgründig wie der heilige Lennon“ – was er auch mit künstlerischen Ambitionen außerhalb der Musik zu unterstreichen suchte. So hat er Gedichte geschrieben und abstrakte Gemälde mit Pinsel und Farbe erstellt, selbst ein Kinderbuch hat er mitverfasst, der deutsche Titel lautet „Hoch in den Wolken“. Und noch höher hinauf strebte er bis in den Olymp der kulturell wertvollen ernsten Musik und komponierte große klassische Orchesterwerke, obwohl er doch nach wie vor weder Noten schreiben noch lesen kann. Das adelt diesen Mann mehr als ein Ritterschlag von Queen Elizabeth II.

Sehr vieles wird ihm nachgesagt, z.B. er sei extrem ehrgeizig, penetrant dominant, besserwisserisch, geizig, er würde andere bevormunden, sei auf versteckte Weise diktatorisch, schaue immer zuerst auf seinen eigenen Vorteil, er sei exaltiert, überspannt, überheblich, kenne keinerlei Selbstkritik, er sei ein anmaßender Egomane, ein Heuchler, habe sogar seine Ehe-Frauen Nummer 1 und 2 geschlagen, er sei „selbstzentriert, ein Kontrollfreak“ sagte wörtlich der langjährige PR-Mann der Beatles Tony Barrow, er sei „gierig und herrschsüchtig“, sagte Wings-Gitarrist Denny Laine; er sei „eine Anhäufung von Widersprüchen“ sagte der Beatles-Intimus Peter Brown. „Er war ein trotziger, unverschämter, pubertärer kleiner Medici-Prinz“, sagte Francie Schwartz, eine von Pauls Dauer-Neben-Frauen, die er parallel zu seiner Hauptbeziehung mit Jane Asher bis 1968 am Laufen hatte. Ist McCartney, wie sich Paul polemisch selbst fragte „dieser herzlose Idiot, dieser seichte, oberflächliche Typ“, der auf die Frage eines Reporters, ‚was sagen Sie zu John Lennons Tod’ selten blöd antwortet: „Das ist eine Sauerei!“

Tatsache ist: Paul McCartney gilt als der reichste und erfolgreichste Popmusiker aller Zeiten. Und zu den einflussreichsten Songschreibern der letzten 50 Jahre gehört er sowieso. Sein Vermögen hat die Milliarden-Grenze in englischen Pfund schon lange überschritten, sein Einkommen vermehrt sich täglich um rund 30.000 Euro – alleine aus Tantiemen. Das entspricht einem Vermögenszuwachs von ca. 20 Euro pro Minute. Aber viel wichtiger: Er ist noch immer ein brillanter Sänger und nicht minder großartiger Songschreiber. Von seinem überdurchschnittlichen Können als Multiinstrumentalist gar nicht zu schweigen. Welcher andere Musiker in den letzten 50 Jahren hat mit seinen Liedern so große und nachhaltige Spuren im kollektiven Bewusstsein einer Generation hinterlassen?

Wer sonst hat die Biografien so vieler Menschen mit seinen Songs über Jahrzehnte begleitet und beeinflusst? Und wer sonst hat in einem kaum vorstellbaren Ausmaß die Musikspeicher in den Köpfen von unzähligen Menschen weltweit mit solch vielen, wunderbaren und überdauernden Melodien angefüllt wie er? Seinen musikalischen Ambitionen und seinem gestalterischen Ehrgeiz ist es vornehmlich zu verdanken, dass die Zusammenarbeit mit dem oft antriebsarmen, um nicht zu sagen faulen Genius Lennon zu popmusikalischen Glanzleistungen führte, die in der Popgeschichte einzigartig und bislang unerreicht sind.

Sein Dilemma bleibt, dass er als Beatle in schwindelerregende Popularitätshöhen hinaufkatapultiert wurde, die nicht mehr zu toppen sind. Und dass er gemeinsam mit seinem Kumpel und kreativen Gegenpart John Lennon überragende Songs schrieb, die alles in den Schatten stellten, was davor war und danach kam – und das in künstlerischer wie in kommerzieller Hinsicht. Im Glanz der Lennon-McCartney-Kompositionen mussten die Songs aus Pauls Solozeit verblassen. Er konnte sich (und kann sich heute noch) anstrengen wie er will, im kollektiven Bewusstsein der Popwelt bleiben die Lennon-McCartney-Klassiker immer die erste Wahl.

Doch was ist mit der Frage von 1967 „Will you still need me ...“ auch noch mit 70 Jahren? Diese Frage muss die aktuelle Popszene eindeutig mit Ja beantworten. Als großartiger Sänger und legendärer Songschreiber und vor allem als lebender Verwalter des unsterblichen Beatles-Erbes wird er nach wie vor gebraucht.

Seit Jahren gibt er wieder regelmäßig umjubelte Konzerte und noch immer sucht er den Kontakt zu seinen Fans. Oder was macht er da, wenn er bei seinen jüngsten Konzerten, wie etwa im letzten Dezember in Köln, nach jedem Song mit vorgestrecktem Kopf die Hand hebt und freundlich ins abgedunkelte Publikum grüßt, so als würde er dort einen alten Bekannten entdecken und hier ein vertrautes Gesicht erspähen? Ein ähnliches Verhalten kennt man auch von derangiert wirkenden älteren Herrn, die meist mit sich selbst reden, aber auch mal einen Laternenpfahl umarmen und dann von freundlichen Herrn in weißen Kitteln aufgesucht und begrüßt werden mit den Worten: „Na Paule, biste mal wieder ausgebüchst.“ Muss man sich um Paule Sorgen machen?

Paul McCartney: „Musik ist keine Arbeit für mich. Ich spiele Musik, und ich hoffe, ich werde noch mit 90 Jahren singen und spielen. Zuletzt schieben sie mich wahrscheinlich im Rollstuhl auf die Bühne, damit ich Yesterday singe.“

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Playlist

1.  L. Shankar / Darlene
Touch Me There / Zappa Records
2.  The Fireman / See The Changes
Electric Arguments / One Little Indian, MPL
3.  Paul McCartney / Riding To Vanity Fair
Chaos And Creation In The Backyard / Parlophone, MPL
4.  Paul McCartney / Maybe I’m Amazed“
McCartney / Apple, EMI
5.  Paul McCartney / The Song We Were Singing
Flaming Pie / Parlophone, MPL
6.  Paul McCartney / Once Upon A Long Ago
All The Best / Parlophone
7.  The Beatles / Penny Lane
1 / Apple
8.  Paul Vincent / I’ve Just Seen A Face
My Beatles Songbook / Luxus Musik
9.  The Beatles / I’ve Just Seen A Face
Help / EMI, Apple
10.  The Beatles / Montage: I’ve Just Seen A Face / I’m Down / Yesterday
diverse / EMI, Apple
11.  Paul McCartney / My One And Only Love
Kisses On The Bottom / Concord, Universal
12.  The Beatles / Besame Mucho
The Unreleased Tracks Vol. 1 / Living Legend Records
13.  Sebastian Meyer / Thank You Paul