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Kramladen Virtuoser Klassiker des Progressive Rock

ByteFM: Kramladen vom 24.03.2016

Ausgabe vom 24.03.2016: Virtuoser Klassiker des Progressive Rock

oder: Der Fluch des Perfektionismus

Zum tragischen Tode von Keith Emerson

Wurde ihm sein eigener Überanspruch an Perfektion und Virtuosität zum Verhängnis? War es eine Depression, seine fortschreitende Erkrankung, oder eine Reihe von abfälligen Fan-Äußerungen über seine nachlassende Spieltechnik, die ihn in den Tod trieb? Was könnte der Grund gewesen sein, warum der einst gefeierte Tastenvirtuose und Pionier in Sachen Verschmelzung von Klassik, Rock und Jazz am 10.03.16 im Alter von 71 Jahren Selbstmord beging? Seine langjährige Lebensgefährtin, die ihn leblos im gemeinsamen Zuhause im kalifornischen Santa Monica fand, berichtete, Keith Emerson habe seit Jahren unter einem Nervenleiden im rechten Arm gelitten. Diese Erkrankung habe erhebliche Auswirkungen auf die Beweglichkeit seiner rechten Hand gehabt. Nach einer letzten Japan-Tournee, die im April beginnen sollte, wollte er sich von der Bühne zurückziehen. Er befürchtete, seinen eigenen Ansprüchen nicht mehr gerecht werden zu können und hatte deshalb für die Tour einen Ersatz-Keyboarder als Unterstützung engagiert.

Seine Partnerin sagte in einem Interview, er habe sehr sensibel und verletzt auf „gemeine“ Kommentare im Netz reagiert. Nach Konzerten im letzten Jahr hatte z.B. ein enttäuschter Fan gepostet: „Ich wünschte, er würde aufhören zu spielen.“ Nicht nur derlei Kritik war für Keith Emerson schwer zu ertragen, sondern vor allem die Erkenntnis des Virtuosen, dass ihm seine Virtuosität allmählich abhanden kam. „Er war Perfektionist, und der Gedanke, dass er nicht perfekt spielen könnte und nicht mehr gut genug sei, machten ihn depressiv, nervös und ängstlich“, analysierte seine Lebensgefährtin.

Es war offenbar auch sehr viel, was er zu verlieren hatte. Denn sein Ruhm als Musiker gründete sich vor allem auf seinen Ruf als überragender Instrumentalist dank seiner stupenden Fingerfertigkeit und Spieltechnik. Dass er auch ein ausgezeichneter Komponist und versierter Arrangeur beim Adaptieren klassischer Vorlagen für Rock-Besetzungen war, das trat etwas in den Hintergrund angesichts seiner Performer-Qualitäten, wenn er im Konzert auf seiner Hammondorgel ritt, die Tastatur mit Messern bearbeitete und spektakuläre, aberwitzig hetzende Keyboard-Soli spielte. Ob er auf den Tasten von Orgel, Synthesizer, Clavinet oder Flügel seine effektvollen Kunststücke vollführte, Keith Emerson war in den frühen siebziger Jahren der unangefochtene Keyboard-Wizard der progressiven Rockmusik.

Schon 1967 sorgte er für Furore mit seiner Band The Nice, die als die erste Klassik/Rock-Crossover-Band in die Popgeschichte einging. Klassische Adaptionen und Interpretationen von Werken aus der E-Musik, etwa von Bach, Tschaikowski, Sibelius und Leonard Bernstein, fanden sich auf den hoch gelobten Alben „The Thoughts Of Emerlist Davjack“ (1967) und „Ars Vita Longa Brevis“ (1968). Im Oktober 1969 führte Emerson mit The Nice seine „Five Bridges Suite“ gemeinsam mit dem London Symphony Orchestra auf.

1970 gründete er, gemeinsam mit dem Gitarristen und Sänger von King Crimson Greg Lake und dem Atomic Rooster-Schlagzeuger Carl Palmer, die erste Supergroup des Progressive Rock: ELP. Mit ihrer Trio-Bearbeitung des Klavierzyklus „Bilder einer Ausstellung“ von Modest Mussorgski, live präsentiert beim Isle of Wight-Festival im August 1970 begann eine äußerst erfolgreiche Karriere. Alben wie „Tarkus“ (1971), „Trilogy“ (1972), „Brain Salad Surgery“ (1973) oder das Live-Album „Pictures At An Exhibition“ von 1971 waren künstlerisch überzeugend gelungen und kommerziell erfolgreich. Der zunehmende Pomp in der musikalischen Gestaltung und die Gigantomanie der Konzerte führten allmählich jedoch zu einer Übersättigung beim großen Publikum. Der aufstrebenden Punk-Bewegung dienten Emerson, Lake & Palmer als Zielscheibe und Feindbild. Über ein Mega-Konzert von ELP notierte der BBC-Radio-DJ John Peel: "Was für eine Verschwendung an Talent und Strom."

Im ELP-Album „Works Volume 1“ von 1977 veröffentlichte Keith Emerson sein erstes Klavierkonzert in drei Sätzen, das monumentale „Piano Concerto No.1“, bei dem er nur am Steinway-Flügel saß und sich vom London Philharmonic Orchestra begleiten ließ. An eigener Klaviermusik sollte in späteren Jahren noch mehr entstehen (z.B.: „Emerson Plays Emerson“, 2002). Nach einer finanziell desaströsen USA-Tournee mit einem 80-köpfigen Orchester im Sommer 1977 und dem künstlerisch enttäuschenden Album „Love Beach“ löste sich ELP 1978 auf. In den Folgejahrzehnten gab es immer mal wieder kurze Wiedervereinigungen, Auftritte und Einzel-Konzerte – das letzte am 25. Juli 2010 zum 40-jährigen Band-Jubiläum als Headliner des Londoner Klassikrock-Festivals High Voltage. (Bei einigen Passagen des Live-Mitschnitts, z.B. im Solo des Songs „Knife Edge“ waren krankheitsbedingte Einschränkungen in der Beweglichkeit von Keith Emersons rechter Hand zu hören.)

Auch im neuen Jahrtausend machte Keith Emerson verschiedentlich auf sich aufmerksam – mit seiner eigenen Keith Emerson Band (das gleichnamige Album erschien 2008), einer weiteren Formation mit dem Sänger und Bassisten Glenn Hughes und dem Gitarristen Marc Bonilla (Album „Boys Club“, 2009), mit seiner Autobiografie „Pictures of an Exhibitionist“ (2004), mit Filmmusik-Kompositionen und Beteiligungen an diversen Tribute-Projekten.

So sehr sich Keith Emerson von einem Kritikerurteil wie dem folgenden geehrt fühlen musste: "perhaps the greatest, most technically accomplished keyboardist in rock history" (allmusic) – es war auch eine schwere Hypothek für ihn, als sein spieltechnisches Vermögen nachließ. Wie fühlt sich ein Virtuose, der seine Virtuosität krankheitsbedingt verliert? Und doch bleibt die Frage: warum hat sich Keith Emerson mit einem Kopfschuss selbst getötet?

Kommentare

chippo vor 7 Jahren
Ein schöner Teil meiner Jugend, sehr traurig. Ein wertvoller Trost. Danke Euch.
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Playlist

1.  L. Shankar / Darlene (Kramladen-Themamusik)
Touch Me There / Zappa Records
2.  Keith Emerson Band / The Art Of Falling Down
Keith Emerson Band / Edel Records
3.  The Nice / America
The Thoughts Of Emerlist Davejack / Immediate Records
4.  The Nice / Tarkus
Vivacitas - Live At Glasgow 2002 / Polygram
5.  Emerson, Lake & Palmer / Tarkus
Tarkus / Island
6.  Emerson, Lake & Palmer / Rondo (Emerson Goes Berserk)
ELP Live / Ariola
7.  Keith Emerson Band / Miles Away Pt2, Sonata, Fugue
Keith Emerson Band / Edel Records
8.  Keith Emerson, Glenn Hughes, Marc Bonilla / Hoedown
Boys Club, Live From California / E.A.R.-Music, Edel
9.  Keith Emerson / Ballad For A Common Man
Emerson Plays Emerson / EMI
10.  ELP / Knife Edge (Live)
High Voltage Festival 2010 / Download
11.  ELP / Jerusalem
Brain Salad Surgery / Manticore