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Was ist Musik Tones not Notes - 100 Jahre Sun Ra

ByteFM: Was ist Musik vom 18.05.2014

Ausgabe vom 18.05.2014: Tones not Notes - 100 Jahre Sun Ra

Tones not Notes - 100 Jahre Sun Ra
Die Wahrheit über den Planeten ist eine böse Wahrheit. So lautet das Mantra von „The Truth About Planet Earth“, Sun Ra Live 1978. Nach sieben Minuten bad & sad truth zu Schlagzeug und Piano folgt der nächste Song. Gebetsmühlenfunky wiederholen die vier Musiker: Space is the place, Space is the place.…
Nimmt man die beiden Titel beim Wort, dann hat man die Essenz des Sun Ra. Die Erde ist ein feindseliger Ort für einen African American, also laßt uns ein besseres Morgen suchen im Space. Viele Motive bei Sun Ra haben einen doppelten Boden: Space ist der Raum zum Leben und das Weltall. Dass der afroamerikanische Visionär des Freien Jazz Zuflucht im Space sucht, das hat auch damit zu tun, dass er in Birmingham, Alabama zur Welt kommt, „der vielleicht am schärfsten segregierten Stadt der Erde“, so sein Biograf John Szwed. Hier regiert der Ku-Klux-Klan, noch 1963 fallen in einer Baptistenkirche vier schwarze Mädchen einem Anschlag zum Opfer, im selben Jahr setzt George Wallace, der Gouverneur von Alabama, die Nationalgarde ein, um die weißen Schulen "negerfrei" zu halten. Zu diesem Zeitpunkt ist der am 22. Mai 1914 als Herman Poole Blount geborene und im Zeichen des Southern Baptism aufgewachsene Pianist und Bandleader längst im toleranteren Norden gelandet. „Space-Stimmen“ und „Space-Weisheit“ haben ihn nach Chicago gebeamt, erklärt der Mann, der sich nach dem ägyptischen Sonnengott Sun Ra nennt und vom Saturn kommt. Balkan Music Co. ist ein Studio im Chicagoer Stadtteil Pilsen, dort steigt 1956 die erste Session für Sun Ras neues Label: El Saturn Records. Slogan: „Beta Music For A Beta World.“ Alabama, Ägypten, Balkan, Chicago, Pilsen, Saturn – der Mann ist rumgekommen, die Grenze zwischen realen und imaginären Orten ist obsolet, wenn Space der einzige Place ist, wo man leben kann als African American. Wie die von ihm viral beeinflußten Dub- bzw- Funk-Gottheiten Lee Scratch Perry („Arkology“) und George Clinton („Mothership Connection“) gilt Sun Ra als Wahnsinnsgenie. Auf der Seite des Wahnsinns verorten auch viele Fans von Ra, Perry & Clinton die kryptoreligiöse bis synkretistische Rede vom Space, der the Place sein soll. Glücklicherweise folgen Sun Ra kluge Sternendeuter, die den Esoterik-Verdacht entkräften und seinen Space-Tick auf eine, nun ja, historisch-materialistische Grundlage stellen. Menschenhandel heißt das Geschäft. Schwarze Frauen und Männer aus Afrika werden auf Schiffen über den Atlantik geschafft, diejenigen, die nicht ins Meer geworfen werden, weil sie schwach sind oder schwanger finden sich in einer unbarmherzigen Welt wieder. Sie werden gemustert, vermessen, taxiert, von ihren Angehörigen getrennt und dienen fortan fremden Herren weißer Hautfarbe. Sun Ra ist nicht zu verstehen ohne die afrikanisch-amerikanische Matrix namens Sklaverei, eine Erfahrung der Dislokation, der Auslöschung von Geschichte. Historische Antworten: Nein, ich bin nicht Cassius Clay, ich bin Muhammad Ali. Mein Name ist X, Malcolm X, ich scheiß´ auf meinen Sklavennamen. Ich bin Sun Ra, Space ist mein Place. Arkestra nennt er seine Band, noch ein doppelter Boden: Wie Arkestra klingt es, wenn sie im Süden Orchestra sagen. Ark ist die Arche, das rettende Gegenmodell zu den Sklavenschiffen.
Die intergalaktische Zukunft sei ein Ort der Selbstprojektion, ein utopischer Raum, befreit von der irdischen Last aus Vorurteilen und Ungleichheiten. So erläutert die Kunstprofessorin Camille Norment Sun Ras Anrufung des Außerirdischen und Exotischen. Unabhängigkeit durch Separation statt Integration, diese politische Option hört der Kritiker John Corbett in Sun Ras Space-Mantra. Beide Ra-Analytiker umschreiben so eine komplexe Praxis, für die sich bald der Begriffscontainer Afrofuturismus etabliert. Sun Ra: „Das Unmögliche zieht mich an, denn alles Mögliche ist schon gemacht worden, und die Welt hat sich nicht verändert.“ Obamas Präsidentschaft geht zu Ende, ohne dass sich irdische Glücksversprechen über die Maßen erfüllt hätten, da strahlt Sun Ras eskapistisch-separatistische Space-Vision zum 100.Geburtstag umso heller.

Fortsetzung am Samstag, 17.5. in der taz


Kosmischer Noise, von Tim Stüttgen

Der afroamerikanische1 Free Jazz-Komponist
Sun Ra wurde unter dem Namen Herman
Poole Blount am 22 Mai 1914 in Birmingham,
Alabama geboren, das sein Biograph John
Szwed als »perhaps the most segregated city in
the world« beschrieb.2 Ra hat in seinem Leben
hunderte von Platten, viele davon auf seinem
eigenen Label Saturn Records, veröffentlicht.
Seit Ende der 1950er-Jahre intensivierte Sun Ra
seine Außenwirkung sowohl musikalisch als
auch performativ. In einer Mischung aus Gottheit
und Despot, Alien und Cyborg inszenierte
er sich konträr zu den performativen Konventionen
des Jazz. Ra erweiterte aber auch das
musikalische Vokabular des Genres durch die
Hinzunahme elektronischer Instrumente wie
dem Moog-Synthesizer. Dies war für schwarze
Musik nicht selbstverständlich, da sie ihre angebliche
Authentizität aus einer Ästhetik des
Analogen bezog. Dazu war die Struktur seiner
Bigband exzeptionell: Einer Art afroamerikanischen
Kommune gleichend bestimmten
die kollektiven Praktiken der Gruppe nicht
nur die Soundproduktion sondern auch Cover-
Graphik und Kostüme in einem ständigen
kreativen Prozess zwischen Kunst und Leben.
Ra lehrte seine Schüler_innen dabei nicht
nur Komposition und Improvisation, sondern
auch die philosophischen Wurzeln schwarzer
Geschichte. Die Erkenntnisse aus seiner Lehre
sollten die Musiker_innen dann direkt in Musik
übertragen.
Relevante Schriften, die das Werk und Leben
von Sun Ra beleuchten, gibt es schon einige. Ob
John Szweds umfangreiche Biographie Space is
the Place3, Kodwo Eshuns More Brilliant Than
The Sun4 oder der von Diedrich Diederichsen
herausgegebene Reader Loving The Alien5 – das
Leben und Werk eines der außergewöhnlichsten
Künstler nicht nur im Jazz, sondern auch
in der Avantgarde und der Moderne scheint
eigentlich schon vielfach diskutiert und kanonisiert.
Bisher ist jedoch noch ausgeblieben
Sun Ras Werk queer, oder – wie ich es lieber
nennen möchte – quare zu lesen.
Quare ist ein von dem afroamerikanischen
Queer-Theoretiker J. Patrick Johnson entwickelter
Begriff, der versucht, in die unmarkiert
weiße Fundierung queerer Theorien zu intervenieren.
Wie er in einem Text schreibt, wurde
er von diesem Begriff durch seine Großmutter
inspiriert, die in ihrem Südstaaten-Akzent,
den Begriff »queer« als »quare« aussprach.6
Für Johnson verweist diese auch sonische Verschiebung
des Begriffes im Südstaaten-Dialekt
nicht zuletzt auf den historischen Schatten der
Sklaverei, einer traumatischen Historie, die
nicht nur das Verhältnis zwischen Schwarzen
und Weißen in den USA bis heute tangiert,
sondern auch, wie viele schwarze queere und
feministische Theoretiker_innen anmerken,
wichtige Differenzen in Sachen Gender und
Sexualität markiert. Der 2005 veröffentlichte
Reader Black Queer Studies7 gibt davon einen
Eindruck. In ihm wird unter anderem angemerkt,
dass in dem gleichnamigen Symposium
auf einem der Panels gar diskutiert wurde, ob
es überhaupt adäquat sei, den Begriff queer für
afroamerikanische Perspektiven zu benutzen.8
Die sich als schwarze Lesbe identifizierende
Theoretikerin Cathy Cohen bezweifelte dies,
und wies in ihrem Text »Punks, Bulldaggers
and Welfare Queens« auf spezifische afroamerikanische
Figurationen von Identität hin,…

Fortsetzung in der aktuellen Testcard zum Thema Transzendenz

Dazu die Redaktion:
Eine Woche, nachdem uns Tim Stüttgen diesen Text
schickte, erreichte uns eine dieser Nachrichten, die in
letzter Zeit zu häufig geworden sind: die Nachricht von
seinem Tod. Der Schock war um so größer, weil er gerade
wieder begonnen hatte, regelmäßig Texte zu veröffentlichen.
Und wie immer ging es dabei um alles: Fernsehserien,
Neo-R&B, Genderperformance im Freak-Folk,
Queer Theory – Tims Interessen waren unbegrenzt.
Selbst wenn man ihn während des schnöden Ladendienstes
im Kreuzberger b-books besuchte, versprühte er diese
rastlose Energie, mit der er sich auf seine Interessen
stürzte und sie in flanierende, dringliche, aber niemals
aufdringliche Texte goss.
In einem langen Text kamen all seine Interessen zusammen:
Tim hat ein englischsprachiges Buch über Sun Ra
geschrieben, in dem er versucht, den Afrofuturismus
des großen Jazzmusikers mit dessen Homosexualität
zusammenzudenken. Für die aktuelle testcard-Ausgabe
hat er einen Auszug daraus übersetzt. Wir bedanken uns
ganz herzlich bei seiner Familie und allen Hinterbliebenen,
dass sie uns gestattet haben, diesen Text trotz allem
abzudrucken. Er ist nicht nur eine Erinnerung an einen
hochgeschätzten Autoren und Kollegen, sondern auch
ein beeindruckendes Zeugnis dessen, was Tim noch für
uns bereitgehalten hätte. Mit »wir werden ihn vermissen
«, beendete sein guter Freund Wolfgang Frömberg
kurz nach Tims Tod seinen Nachruf. Heute wissen wir:
Er fehlt jetzt schon.

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Playlist

1.  Sun Ra / Rocket No.9
Space Is The Place / Decca
2.  Sun Ra / Saturn
A Space Odyssey / Fantastic Voyage
3.  Sun Ra / The Truth About Planet Earth
Media Dreams / Art Yard
4.  Sun Ra / Space Is The Place
Media Dreams / Art Yard
5.  Dorothy Donegan / D.D.D.
A Space Odyssey / Fantastic Voyage
6.  Red Saunders, Dolores Hawkins &The Hambone Kids / Hambone
A Space Odyssey / Fantastic Voyage
7.  Sun Ra & His Arkestra / New Day
A Space Odyssey / Fantastic Voyage
8.  Sun Ra & His Outer Space Arkestra / Nuclear War
Nuclear War / Y-Records
9.  Brian Ritchie / Atom Krieg
Nuclear War / SST
10.  Sun Ra / Song No.1
The Antique Blacks / Art Yard