Was ist Musik Ewig unterschätzt: Pisse
Der meistdiskutierte Auftritt beim diesjährigen Glastonbury war dann doch nicht der von Kanye West. Den hatten die Patrioten Englands gegen die Invasion der Afroamerikaner - der britische Pop-Ableger von PEGIDA – ja vergeblich versucht zu verhindern (siehe unten*). Der meistdiskutierte Auftritt bei Glastonbury blieb diesmal Mark E.Smith vorbehalten.
"A new meaning for 'live streaming'.
Post-punk icon Mark E. Smith had a rough go of it at Glastonbury, not that you’d know it: it appears that The Fall frontman pissed his pants before his otherwise-undeterred performance. Definitely a source of cognitive dissonance for those whining about Kanye West’s `dignity´ in the days since his headlining set."
Die naheliegendste Interpretation von Smiths Piss-Auftritt: er wollte den Sleaford Mods eins auswischen. Das gefeierte Duo aus den Midlands wird ja nicht nur immer wieder mit The Fall verglichen, in ihren mit „ecremental anger“ (Mark Fisher) vorgetragenen Tiraden wimmelt es auch von Pisse und Scheiße. In der Pop-Musik sind Exkremente eher selten ein Thema. Das sollte sich ändern. Zumal kurz vor dem Fall-Auftritt das Album „Mit Schinken durch die Menopause“ erschienen ist, von der Band Pisse. Zumal Machineyfied, ein Nebenprojekt von Sleaford Mods-Ranter Jason Williamson, gerade einen Track namens „Piss Business“ rausgebracht haben. Zumal Belp auf Schamoni Musik „Here Comes Pissy Milly“ ins Rennen schicken. Und die Melvins „Piss Pisstoferson“ besingen. Und wie hieß noch mal der 2104er-Hit von Schnipo Schranke? Und wie hieß noch mal die Fabrik, aus der die junge Patti Smith um jeden Preis rauswollte?
*Real blokes in real jeans drinking real lager standing in real mud
Text Aus der SZ im Januar 2015:
Patrioten Englands gegen die Invasion der Afroamerikaner? Nein, so weit sind wir noch nicht. Vorerst hat der britische Pop-Ableger von PEGIDA nur einen einzigen Afroamerikaner im Visier. Sein Name ist Kanye West. Mit einer Online-Petition soll verhindert werden, dass der schwarze Rapper in diesem Jahr als Headliner in Glastonbury auftritt. Das Festival im englischen Südwesten ist eins der größten seiner Art, das Line-Up wird diskutiert, als ginge es um weltbewegende Dinge wie einen Wechsel von Lionel Messi zu Sheffield Wednesday oder eine neue Brust-OP von Katie Price.
Nun also soll Kanye West die Nachfolge von Neil Young, Bruce Springsteen, U2 und den Rolling Stones antreten. Und von Jay Z. Der durfte 2008 als erster HipHop-Artist den Headliner spielen und bekam gleich Gegenwind, vor allem von Noel Gallagher. Jay Z. konterte mit „Wonderwall“, dem Lagerfeuer-Dauerbrenner von Oasis, erweitert um die Zeile: „That bloke from Oasis said I couldn't play guitar/Somebody should have told him I'm a fuckin' rock star.“ Gut gegeben. Sieben Jahre später dann das: “Cancel Kanye West's headline slot and get a rock band!” fordert eine Petition, der sich pro Tag rund 20.000 Leute anschließen. Manche Unterzeichner nennen West eine „cunt“ oder einen „gay fish“, andere werden grundsätzlich: „Glastonbury Festival is about classic bands, not these sorts of hip-hop artists,“ schreibt Eleanor und erklärt, dass ein “frauenverachtendes, selbstsüchtiges, rassistisches und arrogantes Wesen wie Kanye West“ da nichts verloren hat. Rassistisch? West ist einer der wenigen schwarzen Superstars, die ihre Popularität zu politischen Interventionen nutzen. "George Bush interessiert sich nicht für Schwarze", Wests Satz nach dem Hurrikan Katrina 2005 wird zum geflügelten Wort, zu den Todesschüssen von Ferguson hat er sich mehrfach geäußert. Offenbar spielt die Hautfarbe auch beim Kulturkampf um Glastonbury eine Rolle. “What the fuck I’m no racist”…schreibt ein West-Gegner, in schönster „Das wird man doch noch sagen dürfen“-Pegida-Rhetorik: „Ich bin kein Rassist, aber…Glastonbury’s a white festival for real music on real guitars by real blokes in real jeans drinking real lager standing in real mud.” Ganz schön viel real. Echte Musik von echten Kerlen, echtes Bier und echter Schlamm, das Gegenbild zu „diesen HipHop-Artisten“ mit ihrem neumodischen Schnickschnack, Sampling, Autotune, der ganze Scheiß. Aber es gibt noch einen anderen Aspekt des Realen.
„You make me feel mighty real“ von Sylvester, der Gay Black Diva, gecovert von Jimmy Somerville, „Got to be real“ von Cheryl Lynn und „Real people“ von Chic, gleich drei Disco-Klassiker tragen das real im Titel. Sie verorten Realness unter der Discokugel: nur an diesem geschützten Ort, können wir real sein, sagen diese Songs. Wir Außenseiter. Wie seine Enkelin, die House Music, war Disco der Soundtrack derjenigen, die que(e)r stehen zur weißen, Hetero-Norm, und deswegen wird Disco wie House von Repräsentanten der weißen, heterosexuellen Norm abgelehnt: unnatürlich, un-real.
Manchmal kippt die Ablehnung in Aggression, so 1979 bei der Disco Demolition Night in Chicago. Im Vorprogramm eines Baseball-Spiels verbrannten aufgeheizte Rockfans Tausende von Disco-Platten. Vielleicht gibt´s ja ein déjà-vu, diesen Sommer in England. Glastonbury ist ein weißes Festival! Das ist der Tenor einer Bewegung, die Rock als genuin weiße Musik für sich beansprucht. Ein geschichtsrevisionistischer Treppenwitz, wenn man bedenkt, was etwa die Rolling Stones dem schwarzen Amerika zu verdanken haben. So ziemlich alles, Bandname inklusive, der stammt von Muddy Waters.
"A new meaning for 'live streaming'.
Post-punk icon Mark E. Smith had a rough go of it at Glastonbury, not that you’d know it: it appears that The Fall frontman pissed his pants before his otherwise-undeterred performance. Definitely a source of cognitive dissonance for those whining about Kanye West’s `dignity´ in the days since his headlining set."
Die naheliegendste Interpretation von Smiths Piss-Auftritt: er wollte den Sleaford Mods eins auswischen. Das gefeierte Duo aus den Midlands wird ja nicht nur immer wieder mit The Fall verglichen, in ihren mit „ecremental anger“ (Mark Fisher) vorgetragenen Tiraden wimmelt es auch von Pisse und Scheiße. In der Pop-Musik sind Exkremente eher selten ein Thema. Das sollte sich ändern. Zumal kurz vor dem Fall-Auftritt das Album „Mit Schinken durch die Menopause“ erschienen ist, von der Band Pisse. Zumal Machineyfied, ein Nebenprojekt von Sleaford Mods-Ranter Jason Williamson, gerade einen Track namens „Piss Business“ rausgebracht haben. Zumal Belp auf Schamoni Musik „Here Comes Pissy Milly“ ins Rennen schicken. Und die Melvins „Piss Pisstoferson“ besingen. Und wie hieß noch mal der 2104er-Hit von Schnipo Schranke? Und wie hieß noch mal die Fabrik, aus der die junge Patti Smith um jeden Preis rauswollte?
*Real blokes in real jeans drinking real lager standing in real mud
Text Aus der SZ im Januar 2015:
Patrioten Englands gegen die Invasion der Afroamerikaner? Nein, so weit sind wir noch nicht. Vorerst hat der britische Pop-Ableger von PEGIDA nur einen einzigen Afroamerikaner im Visier. Sein Name ist Kanye West. Mit einer Online-Petition soll verhindert werden, dass der schwarze Rapper in diesem Jahr als Headliner in Glastonbury auftritt. Das Festival im englischen Südwesten ist eins der größten seiner Art, das Line-Up wird diskutiert, als ginge es um weltbewegende Dinge wie einen Wechsel von Lionel Messi zu Sheffield Wednesday oder eine neue Brust-OP von Katie Price.
Nun also soll Kanye West die Nachfolge von Neil Young, Bruce Springsteen, U2 und den Rolling Stones antreten. Und von Jay Z. Der durfte 2008 als erster HipHop-Artist den Headliner spielen und bekam gleich Gegenwind, vor allem von Noel Gallagher. Jay Z. konterte mit „Wonderwall“, dem Lagerfeuer-Dauerbrenner von Oasis, erweitert um die Zeile: „That bloke from Oasis said I couldn't play guitar/Somebody should have told him I'm a fuckin' rock star.“ Gut gegeben. Sieben Jahre später dann das: “Cancel Kanye West's headline slot and get a rock band!” fordert eine Petition, der sich pro Tag rund 20.000 Leute anschließen. Manche Unterzeichner nennen West eine „cunt“ oder einen „gay fish“, andere werden grundsätzlich: „Glastonbury Festival is about classic bands, not these sorts of hip-hop artists,“ schreibt Eleanor und erklärt, dass ein “frauenverachtendes, selbstsüchtiges, rassistisches und arrogantes Wesen wie Kanye West“ da nichts verloren hat. Rassistisch? West ist einer der wenigen schwarzen Superstars, die ihre Popularität zu politischen Interventionen nutzen. "George Bush interessiert sich nicht für Schwarze", Wests Satz nach dem Hurrikan Katrina 2005 wird zum geflügelten Wort, zu den Todesschüssen von Ferguson hat er sich mehrfach geäußert. Offenbar spielt die Hautfarbe auch beim Kulturkampf um Glastonbury eine Rolle. “What the fuck I’m no racist”…schreibt ein West-Gegner, in schönster „Das wird man doch noch sagen dürfen“-Pegida-Rhetorik: „Ich bin kein Rassist, aber…Glastonbury’s a white festival for real music on real guitars by real blokes in real jeans drinking real lager standing in real mud.” Ganz schön viel real. Echte Musik von echten Kerlen, echtes Bier und echter Schlamm, das Gegenbild zu „diesen HipHop-Artisten“ mit ihrem neumodischen Schnickschnack, Sampling, Autotune, der ganze Scheiß. Aber es gibt noch einen anderen Aspekt des Realen.
„You make me feel mighty real“ von Sylvester, der Gay Black Diva, gecovert von Jimmy Somerville, „Got to be real“ von Cheryl Lynn und „Real people“ von Chic, gleich drei Disco-Klassiker tragen das real im Titel. Sie verorten Realness unter der Discokugel: nur an diesem geschützten Ort, können wir real sein, sagen diese Songs. Wir Außenseiter. Wie seine Enkelin, die House Music, war Disco der Soundtrack derjenigen, die que(e)r stehen zur weißen, Hetero-Norm, und deswegen wird Disco wie House von Repräsentanten der weißen, heterosexuellen Norm abgelehnt: unnatürlich, un-real.
Manchmal kippt die Ablehnung in Aggression, so 1979 bei der Disco Demolition Night in Chicago. Im Vorprogramm eines Baseball-Spiels verbrannten aufgeheizte Rockfans Tausende von Disco-Platten. Vielleicht gibt´s ja ein déjà-vu, diesen Sommer in England. Glastonbury ist ein weißes Festival! Das ist der Tenor einer Bewegung, die Rock als genuin weiße Musik für sich beansprucht. Ein geschichtsrevisionistischer Treppenwitz, wenn man bedenkt, was etwa die Rolling Stones dem schwarzen Amerika zu verdanken haben. So ziemlich alles, Bandname inklusive, der stammt von Muddy Waters.
Weitere Ausgaben von Was ist Musik
Playlist
1. |
Pisse / Pumafrau (Ft. Miss Red) Mit Schinken durch die Menopause / Beau Travail |
… |
2. |
Pisse / Scheiss DDR Mit Schinken durch die Menopause / Beau Travail |
… |
3. |
Pisse / Nervenheilanstalt Mit Schinken durch die Menopause / Beau Travail |
… |
4. |
The Fall / Dedication Not Medication Sub-Lingual Tablet / Cherry Red |
… |
5. |
Machineyfied / Piss Business Piss Business / NGland Records |
… |
6. |
Sleaford Mods / Face To Faces Key Markets / Harbinger Sound / Cargo |
… |
7. |
Pisse / Work life balance Mit Schinken durch die Menopause / Beau Travail |
… |
8. |
Pisse / Antwort als Fax Mit Schinken durch die Menopause / Beau Travail |
… |
9. |
Schnipo Schranke / Pisse Pisse / Staatsakt |
… |
10. |
Patti Smith Group / Piss Factory Land / Arista |
… |
11. |
Patti Smith Group / Pissing in the river Land / Arista |
… |
12. |
Melvins / Piss Pisstofferson Piss Pisstofferson / Ipecac |
… |
13. |
Nirvana / Territorial Pissings Nevermind / Geffen |
… |
14. |
Mekons / Never been in a riot Lipstick Traces / Rough Trade |
… |
15. |
Von Südenfed / Flooded Tromatic Reflexions / Dominno |
… |
16. |
The Fall / Quit Iphone Sub-Lingual Tablet / Cherry Red |
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