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Was ist Musik Dachau, Disney, Disco – Jonas Engelmann über wurzellose Kosmopoliten

ByteFM: Was ist Musik vom 11.09.2016

Ausgabe vom 11.09.2016: Dachau, Disney, Disco – Jonas Engelmann über wurzellose Kosmopoliten

Blondie, die sich für einen Song auf einem Tribute-Sampler für Iggy Pop auch ironisch Adolf ’s Dog nannten. Im Song »The Attack of the Giant Ants« von ihrem Debütalbum nehmen sie thematisch Bezug auf die deutschen Vernichtungsfantasien und transformieren sie in eine typische Blondie-Comicwelt: »Giant ants from space snuff the human race / Then they eat your face, never leave a trace.« Insbesondere die Zeile »Never leave a trace« ruft die Assoziationen zum Versuch der Nazis hervor, keine Spur jüdischen Lebens zu hinterlassen.

Und wenn später Chris Stein, der Texter des Songs, der Sängerin Debbie Harry in den Mund legt: »The world is Holocaust. / Everything is lost / Mankind is destroyed. / Sprinkled in the void / La la la la la, la la la la, la la la la«, ist darin eine Form ironischen und gleichzeitig provokativen Sprechens über die Nazivergangenheit zu sehen, wie es viele Punksongs auszeichnet. Im »La la la la« klingt gleichzeitig die Banalisierung der Vergangenheit durch die permanente Wiederholung an.

„Blondie, die musikalisch weniger provokativ waren als andere Punkbands dieser Zeit, verweisen damit auf eine Entwicklung, die in den 1970er-Jahren den Umgang mit dem Nationalsozialismus kennzeichnete und die man als die »Kulturindustrialisierung der Shoah« umschreiben könnte. Am repräsentativsten für diese Entwicklung steht wohl die amerikanische Fernsehserie Holocaust, die im April 1978 in Amerika und im Januar 1979 in Deutschland ausgestrahlt wurde.

Holocaust erzählt die Vernichtung der europäischen Juden als »Story« anhand der jüdischen Familie Weiss, die sämtliche Stadien des Grauens zu durchleben hat. Der Soziologe Detlev Claussen schreibt zu Holocaust und den Folgen der Serie für die Rezeption der Shoah: »Mit dem massenmedial vermittelten Code ›Holocaust‹ wird eine zerbrochene Erfahrungswelt zu einer sinnstiftenden Einheit verklebt.«20 Claussen weist damit auf das Problem hin, dass in dieser Form der Erinnerung an die Shoah der Sinnlosigkeit ein Sinn zugesprochen wird.

Der Kommentar der New Yorker Band Suicide zu dieser Entwicklung lautet »Dachau, Disney, Disco«, ein Song, der in dieser Begriffsreihung auf die Problematik kulturindustrieller Vereinnahmung der Shoah hinweist, und mit seinen Halleffekten zeigt, dass die Vergangenheiteben nicht abgeschlossen ist, sondern als Störgeräusch die Gegenwart überlagert. Der jüdische amerikanische Punk war eine popkulturelle Störung des ritualisierten Gedenkens, eine kulturelle Strategie der Reflexion über Auschwitz.“

Aus: Jonas Engelmann: Wurzellose Kosmopoliten - Von Luftmenschen, Golems und jüdischer Popkultur (Ventil Verlag)

Jonas Engelmann nächste Woche zu Gast bei Was ist Musik mit „Damaged Goods - 150 Einträge in die Punk-Geschichte“.

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Playlist

1.  Phranc / Take Off Your Swastika
I enjoy being a girl / Rough Trade
2.  The Dictators / Master Race Rock / Go Girl Crazy
3.  Suicide / Dachau Disney Disco
American Supreme / Blast First
4.  Jeffrey Lewis / Roll Bus Roll
`Em are I / Rough Trade
5.  The Long Decline / Feathers
The Long Decline / Hoppl Di Hoy
6.  Roy Nathanson/Antony Coleman / Birds/Jews
The Coming Great Millenium / CBS
7.  Mirah / Gestations of a Sacred Beatle
Share This Places: Stories and Observations / K
8.  Son / Go Along with it
Son / Kitty Yo
9.  Yoshie Fruchter / Go Go Golem
Pitom / Tzadik