Ol‘ Dirty Bastard – „Return To The 36 Chambers: The Dirty Version“ (Elektra Records)
Da zum Jahreswechsel traditionell wenig neue Musik veröffentlicht wird, nutzen wir die Chance, den Blick in die Vergangenheit zu richten: Statt neuer Langspieler stellen wir wegweisende Alben vor, die ein Jubiläum feiern. In dieser Woche ist es „Return To The 36 Chambers: The Dirty Version“ von Ol‘ Dirty Bastard, das 2025 30 Jahre alt wird.
Ein beliebter Archetyp im chinesischen Martial-Arts-Kino ist der „Drunken Master“. Frei nach der jahrhundertealten Kung-Fu-Technik des Drunken Boxing verwandelt der Rausch die Protagonist*innen von paddligen Normalos in unvorhersehbare Kampfmaschinen, die die chaotischen Zuckungen eines Betrunkenen für maximales Chaos nutzen. So kann Jackie Chans Protagonist im Klassiker „Drunken Master II“ eine Gruppe Schläger erst überwältigen, nachdem seine Mitstreiterin ihm mehr und mehr Schnapsflaschen zuwirft. Zu Beginn der Szene ist er nervös, doch am Ende demütigt er seine Gegner mit Pirouetten und Saltos – während er sie zusammenschlägt. Seine Bewegungen sind fürs bloße Auge nicht mehr nachvollziehbar, kein Schlag, keine Rolle ergibt Sinn. Doch die Bösewichte liegen Sekunden später doch alle auf dem Boden. Und der betrunkene Meister starrt mit irrem Blick herab auf seine Opfer.
Kein Wunder, dass sich Russell Tyrone Jones mit diesem Archetyp identifizieren konnte. War er doch als Ol’ Dirty Bastard eine der unvorhersehbarsten Figuren des HipHop. Wie seine restlichen Kollegen vom New Yorker Wu-Tang Clan war auch Jones ein Martial-Arts-Nerd: Seinen Künstlernamen Ol’ Dirty Bastard entlieh er dem 80er-Jahre Streifen „Ol’ Dirty & The Bastard“ – eine weitere Variation auf den „Drunken-Master“-Mythos. Und genau wie der namensgebende Kung-Fu-Schluckspecht bewegte sich Ol’ Dirty Bastards Flow in chaotischen Schlangenlinien. Mal mit Schaum vorm Mund gerappt, mal mit manischem Vibrato gesungen. Als Rapper schlug, trat und torkelte er in alle Richtungen gleichzeitig. Mit einer Energie, die trotz all des Chaos volle Aufmerksamkeit vom Publikum einforderte. Kein Album zeigte die Kunst des Drunken Master des HipHop so eindrücklich wie „Return To The 36 Chambers: The Dirty Version“, die Debüt-LP von Ol’ Dirty Bastard, die 2025 30 Jahre alt wird.
Der Drunken Master des HipHop
Auch Jones’ Lebenstil passte sehr gut zu diesem Archetypen. Nachdem er und sein Wu-Tang Clan mit ihrem Debütalbum „Enter The Wu-Tang (36 Chambers)“ 1993 den East-Coast-HipHop umkrempelten, sollte Ol’ Dirty Bastards Debütalbum eigentlich das erste Wu-Tang-Solodebüt darstellen. Doch die Arbeiten an „Return To The 36 Chambers: The Dirty Version“ zogen sich massiv in die Länge: Zwei Jahre werkelten ODB und sein Produzent, Wu-Tang-Mitstreiter RZA, an der LP, immer wieder unterbrochen durch lange Zechtouren und sonstige Unzuverlässigkeiten. Jones verschwand oft für mehrere Wochen und kehrte sturzbesoffen ins Studio zurück.
Dieser hier hörbare selbstzerstörerische Lifestyle sowie schwere mentale Probleme, wie eine viel zu spät diagnostizierte Schizophrenie, sollten Ol’ Dirty Bastard tragischerweise ein frühes Ende bescheren: Am 13. November 2004 starb er im Alter von nur 35 Jahren an einem Drogencocktail aus Kokain und dem Opiat Tramadol. ODB ließ dieses Leben aber auch nie glamourös wirken. „Return To The 36 Chamber: The Dirty Version“ beginnt unangenehm, mit einem fast fünf Minuten langen, schmerzhaft albernen „Intro“, das sich in etwa so anfühlt, wie einem lallenden Onkel beim Monolog zuzuhören. Doch dann, kurz vorm Ende, legt er plötzlich los: „I’m just kidding with y’all“, spricht er, auf einmal ganz klar. „Listen to the album ‚cause it’s bangin‘!“
Virtuoses Stolpern und Torkeln
Und bangen tut „Return To The 36 Chamber …“ von diesem Moment an tatsächlich. Und wie: Die Single „Shimmy Shimmy Ya“ demonstriert ODB in manischer Höchstform, vom irre gecroonten „Baby I like it raaaaaaaw“ bis zur sich überschlagenen Energie der Verse. Beide Strophen sind identisch zueinander, als wären sie ein langer Refrain. Und genauso catchy sind sie auch: Jones’ Gaga-Flow prügelt jede Zeile ins Stammhirn des Publikums. „Chop that down, pass it all around / Lyrics get hard quick, cement to the ground / For any MC in any fifty-two states / I get psycho killer, Norman Bates.“
Und auf diesem Energie-Level geht es weiter. Jones bezeichnete sich in besagtem Intro noch als „greatest performer ever since James Brown“. In „Baby C’mon“ demonstriert er, was er damit meint. Mit ansteckend verrücktem Vibrato-Gesang und Zeilen, die in ihrer tollwütigen Art jederzeit drohen, in sich selbst zu kollabieren – es aber nie tun. Alberne bis fragwürdige Fehltritte wie das schlüpfrig schmierige „Drunk Game (Sweet Sugar Pie)“ fallen nicht groß ins Gewicht, wenn wenige Sekunden später ein absolutes Brett wie der Hardcore-HipHop-Meilenstein „Snakes“ um die Ecke kommt. Zu unwiderstehlich ist das seltsame Zusammenspiel zwischen RZAs präzise slappenden East-Coast-Beats und ODBs überschäumendem Wahnsinn. Im siebenminütigen Fiebertraum „Brooklyn Zoo II (Tiger Crane)“ wird der Beat gefühlt alle zehn Sekunden geswitcht, doch Jones lässt sich nicht aus dem Gleichgewicht bringen. Ein virtuoses fast schon elegantes Stolpern und Torkeln, das so nur ein wahrer Drunken Master beherrschen kann.
Veröffentlichung: 28. März 1995
Label: Elektra Records