Julien Baker – „Little Oblivions“ (Rezension)

Von Marius Magaard, 26. Februar 2021

Bild des Albumcovers von „Little Oblivions“ von Julien Baker

Julien Baker – „Little Oblivions“ (Matador Records)

7,7

Ein Julien-Baker-Album ist nichts für schwache Nerven. Die Musikerin aus Tennessee schreibt ihre Songs mit der Präzision einer Chirurgin und der Bildsprache einer Schlachterin. Die inneren Kämpfe mit Sucht, Depression und menschlicher Nähe, die sie in ihren Zeilen beschreibt, sind oft untrennbar mit gewaltsamen Motiven verbunden. „Spilling my guts, sweat on a microphone, breaking my voice“, war einer der ersten Verse auf ihrem 2015er Debüt „Sprained Ankle“. Der musikalisch minimalistische Folk dieses Albums stand im Kontrast zur maximalistischen Emotionalität ihrer Stimme und Texte. Auf dem Nachfolger „Turn Out The Lights“ kamen ein paar Streicher und Bläser dazu, doch der Grund-Tenor blieb klar: Julien Baker braucht kein Schlagzeug um ihr Publikum auszuknocken. Dafür benötigt sie nur ihre Gitarre, ihr Klavier und ihre Stimme.

Vorhang auf für „Little Oblivions“. Zur Vorbereitung auf ihre neue LP postete Baker auf Twitter ironisch, das sie jetzt eine „Post-Rock-Band“ sei. Auf ihrem dritten Album spielt Baker zum ersten Mal Musik, die genauso überwältigend klingt wie ihre Texte und ihr Gesang. Nach langem Aufbau explodieren im Opener „Hardline“ Fuzz-Gitarren aus der Mogwai-Schule. Auch „Highlight Reel“ mündet in alles wegspülender Verzerrung. Anderswo bugsieren Schlagzeug und Bass – beides von Baker selbst gespielt, wie fast alles auf diesem Album – Songs wie „Relative Fiction“ oder „Ringside“ in Richtung Indie-Power-Ballade. Jede Sekunde dieses Albums scheint direkt auf die Tränenkanäle zu zielen.

Knock-out in der dritten Runde

Und Baker trifft ihr Ziel. Textlich ist sie immer noch eine brutale Meisterin. In „Heatwave“ beschreibt sie über harmonischen Folk-Rock einen Flugzeugabsturz – und die abgestumpfte Reaktion, die so eine tragische Nachricht auslösen kann: „It’s worse than death that life compressed / To fill a page in the Sunday paper / I had the shuddering thought: / ‚This was gonna make me late for work‘.“ Baker beherrscht die Kunst, mit wenigen Worten eine gutturale Reaktion zu erzielen. In „Favor“ singt sie diese mit verzweifelte Zeilen, während Gastsängerinnen Phoebe Bridgers und Lucy Dacus (mit denen sie auch in der Gruppe Boygenius spielt) harmonischen Trost spenden: „Who put me / In your way to find? / And what right had you / Not to let me die?“

In den besten Momenten von „Little Oblivions“ erschafft Baker ein mächtiges Gefühl von Katharsis, einen emotionalen Wirbelsturm, der in seiner Wucht auch reinigt, vielleicht sogar heilt. Auf ganzer Länge ist dieses Album aber vor allem eins: kräftezehrend. Diese Songs können einen auslaugen. Auch wenn Baker über Hoffnung singt, klingt das im wahrsten Sinne überwältigend. Dieses Album verlangt eine ganz bestimmte Stimmung. Man muss sich ihm öffnen, hingeben – ansonsten wird man wirklich von Baker ausgeknockt.

Veröffentlichung: 26. Februar 2021
Label: Matador Records

Bild mit Text: Förderverein „Freunde von ByteFM“

Das könnte Dich auch interessieren:



Deine Meinung

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert.