Marika Hackman – „Big Sigh“ (Chrysalis Records)
Marika Hackmans neues Album „Big Sigh“ beginnt keineswegs mit dem Stoßseufzer, von dem sein Titel spricht. Statt mit einem großen programmatischen Signal oder einfach ohne Umschweife mit dem eingängigsten Song, wie man das so macht, wenn man Alben verkaufen möchte, lockt uns das Album leise in sich hinein. Denn der Opener „The Ground“ hat mehr von einem Präludium, der dem ersten richtigen Song vorausgeht. So betritt Marika Hackman nach über vier Jahren ohne neues Album (wenn man die 2020er Cover-LP „Covers“ nicht mitrechnet) mit einem angenehmen Anachronismus die Bildfläche. Doch wie in einem Spukhaus-Horrorfilm wissen wir eingangs nicht, was uns erwartet. Das leise Piano-Arpeggio könnte eine Rückkehr zum Progressive-Folkrock aus Hackmans Anfangstagen andeuten. Dazu gesellen sich Streicher und Holzbläser, vermutlich mit einem Mellotron gespielt, bis Hackman eine simple Melodie zu singen beginnt. Nuschelig und verhuscht, mutet das Motiv wie ein Loop an, während sich die Streicher bis zur Verzerrung auftürmen, bis dann alles abrupt abreißt. Willkommen im Album!
Noch immer wissen wir rein gar nichts über die Stoßrichtung der LP. Aber wir sind mitten in ihrem Sog. Natürlich hätte es ganz prosaisch gleich mit „No Caffeine“, dem offensichtlichen Hit des Albums losgehen können. Aber das hatten wir ja schon, als der Song als erste Single erschien. „Ground“ kann im Englischen das Terrain bezeichnen, die Grundlage oder auch die Erde, sowohl im Sinne von „Boden“ als auch als die Ableitung elektrischer Ströme. Und durch dieses Präludium, die Pforte zum Gelände des Longplayers, geerdet, wirkt „No Caffeine“ auf einmal viel intensiver. Denn nach der leicht beklemmenden Eröffnungssequenz, in der irgendetwas nicht zu stimmen scheint, entfaltet die songgewordene Anti-Panikattacken-Checkliste ihre volle Wirkung. Doch exemplarisch für das Album steht diese bald desillusionierte, bald euphorisch rockende Semi-Hymne ebenso wenig wie das Intro.
Gebrochenes Eis
Genau genommen gibt es keinen repräsentativen Song auf Marika Hackmans viertem Album mit eigenen Stücken. Jedoch ist unser Album der Woche alles andere als ein Sammelsurium disparater Tracks. Wohl sequenziert, baut es gerade auf den Unterschieden zwischen den Songs auf, die einander ergänzen oder Abgründe aufreißen können. Es ist somit ein Album, das sein Format mehrwertbringend nutzt. Hackman hat es mit Sam Petts-Davies und Charlie Andrew koproduziert und auch die allermeisten Instrumente selbst eingespielt. Wenngleich die Wahllondonerin vielleicht als Ausbund kreativer Energie erscheinen mag, glaubte sie 2020 den Quell ihrer Kreativität schon fast versiegt. Der Lockdown nahm sie schwer mit und obschon ihr auf „Covers“ wunderbare Neuinterpretationen gelangen, raubten ihr Ängste und gefühlter Kontrollverlust die Gabe, Songs zu schreiben. Ihre Angstzustände begleiten sie seit ihrer späten Jugend, haben jedoch häufig Hackmans Kreativität befeuert. Nun lähmten sie sie.
Marika Hackman erinnert sich an den Moment, in dem das Eis brach: „Ich hatte an diesem Tag zu Hause einen Song geschrieben und ihn schnell auf mein Handy aufgenommen, da ich mich mit Freunden treffen wollte. Als ich dann im Pub war, ging ich auf die Toilette, um ihn mir noch einmal anzuhören und stellte fest, dass er ein Knaller war. Vor lauter Erleichterung wurde mir ganz warm ums Herz.“ Dieses Stück ist unter dem Namen „Hanging“ ziemlich genau in der Mitte des Albums platziert. Und als das Trennungsstück, das sich als Ballade tarnt und in einem, ähem, Kammer-Grunge-Outro gipfelt, stand, flossen die Ideen. „Hanging“ treibt die für das Album wichtige Dynamik ins Extrem. Denn meist spielen sich die Brüche eher zwischen den einzelnen Stück ab, nicht innerhalb.
Durchhören lohnt sich
Obgleich die Angst eine treibende Kraft der Singer-Songwriterin ist, heißt das nicht, dass ihre Musik thematisch in ihr erstarrte. Neben der persönlichen Komponente steht auch häufig eine humorvolle Ebene und auch über Liebe und Sex wird gesungen. Das wollte sie eigentlich nicht mehr so explizit machen wie auf ihrer letzten LP „Any Human Friend“. Doch ein bisschen Schmuddelkram musste sie einfach mit reinwerfen, sagt die Künstlerin über den Song „Slime“. Doch zusätzlich spiegele er „die Zerstörung wider, die entstehen kann, wenn man mit jemandem zusammenkommt und andere Faktoren im Spiel sind. Auf der einen Seite gibt es etwas Neues, das wirklich aufregend und heiß und lustvoll ist, aber es kann auch eine Menge Gewitterwolken geben, eine Menge sozialer Folgen.“ Im letzten Drittel des Albums angesiedelt, ist dieses Stück eine weitere Pop-Sternstunde des Albums.
Nicht nur die Themen und die Dynamik machen „Big Sigh“ aus. Auch die Produktion spielt neben dem Songwriting eine wichtige Rolle. Sei es die Entscheidung, relativ zentral das minimalistische Klavier-Instrumental „The Lonely House“ zu platzieren, die gelungenen Synth-Experimente auf „Vitamins“ oder der cinematische Aufbau von „Please Don’t Be So Kind“: Überall lauern unerwartete Klänge und radikale künstlerische Entscheidungen. „Big Sigh“ ist weder ein zartes Pflänzchen, das ohne ungeteilte Aufmerksamkeit eingeht noch ein Kunst-Brocken, bei dem man ganz besonders aktiv hinhören müsste. Doch es ist endlich einmal wieder ein Album, bei dem sich das Durchhören von Anfang bis Ende auszahlt.
Veröffentlichung: 12. Januar 2024
Label: Chrysalis Records