Peggy Gou – „I Hear You“ (XL Recordings)
Menschen neigen dazu, sich der Existenz ihrer Organe erst bei Krankheiten bewusst zu werden. Erst wenn sie nicht mehr richtig funktionieren, wenn sie schmerzen oder jucken, merken wir, dass sie da sind. Zu sehr sind unsere Hirne mit dem puren (Über-)Leben beschäftigt. Ein Beispiel: Wann habt Ihr das letzte Mal über Eure Ohren nachgedacht? Über diese beiden Knorpelmuscheln, die kleinste Bewegungen in der Luft in Wörter, Lärm oder Musik verwandeln können? Möglicherweise lange nicht mehr.
Um unsere Ohren, bzw. das Hören im Allgemeinen, geht es Peggy Gou auf ihrem Debütalbum. Das zeigt erst einmal der Titel: ein schlichtes „I Hear You“. Ich höre Dich. Ein schöner Satz, eine bestätigende Geste. Gleichzeitig funktional und irgendwie liebevoll. Ich verstehe Dich. Und auch das Cover der lang erwarteten ersten LP der in Südkorea geborenen und in Berlin lebenden DJ und Musikerin lenkt direkt die Aufmerksamkeit auf das Hören. Es zeigt Gou mit vom isländisch-dänischen Künstler Ólafur Elíasson designten „Ohrringen“: zwei Spiegelkonstruktionen, die ihre Ohren mehrfach reflektieren. Peggy Gou hört mehr als nur zu.
Ungefiltertes akustisches Glücksgefühl
Und sie horcht nicht nur nach außen, sondern auch nach innen. Mit ihrem 2023er Smash-Hit „(It Goes Like) Nanana“ (der das Zentrum von „I Hear You“ bildet) wollte sie ein unaussprechliches Gefühl in Musik verwandeln. „Das Gefühl von Liebe, Wärme und Aufregung“, sagte Gou, „wenn Du von Freund*innen und Geliebten umgeben bist und die Energie für sich selbst spricht.“ Als „Worte“ fielen ihr dafür nur „Nanana“ ein. Doch wenn man den Song hört, ist sofort klar, worum es ihr geht. Der Song ist ungefiltertes akustisches Glücksgefühl. Bubblegum-House, der Blutzucker und Endorphin-Level in medizinisch bedenkliche Höhen schießen lassen kann.
Was auch nicht zu überhören ist: Peggy Gous Musik ist nicht besonders subtil. Das ist aber keine Schwäche: Direkt nach dem Spoken-Word-Intro „Your Art“ ballert sie eine Hookline nach der anderen heraus. Die musikalische Grundbasis ist stets House, aber mit Pop im Fokus. In „Back To One“ trifft ein hinreißender Refrain auf pushenden Drumbeat, Herz und Füße im Einklang. Das gilt auch für die wortlosen Tracks wie das Hi-NRG-Outro „1+1=11“. In „Seoulsi Peggygou“ treffen Drum-’n‘-Bass-Breakbeats auf koreanische Folk-Sounds. Ohne Angst vor Cheesyness, sondern mit vollem Genuss. Apropos: Die etwas weniger tanzbare Hymne „I Believe In Love Again“ könnte in der Theorie schmalzig daherkommen, mit ihrer schmierigen R&B-Hookline und Gastgesang von Lenny Kravitz(!) – ist sie aber wundersamerweise überhaupt nicht. Ein perfektes Beispiel für Gous House-Pop-Zauberei. Das Hören, das im Zentrum von „I Hear You“ steht, ist kein feinfühliges Lauschen. Stattdessen geht es Gou hier um offenherziges Einanderzuhören – um die nonverbale Verbindung, die so nur auf dem Dancefloor entstehen kann.
Veröffentlichung: 7. Juni 2024
Label: XL Recordings