Belgrad – „Belgrad“ (Rezension)

Foto von des Covers von Belgrad - Belgrad – „Belgrad“ (Zeitstrafe)

7,8

Vögel zwitschern, Männer rufen, eine Rakete startet, aus der Ferne erschallt der Einschlag des Sprengkörpers. Diese Klangkulisse bildet den Einstieg in das erste, selbstbetitelte Album von Belgrad. In den ersten zwei Minuten wird gänzlich auf Instrumente verzichtet, vor der auditiven Kriegsszenerie singen Belgrad von Blut, Tod und Flucht. Schauerlich intim, wie ein Lagerfeuerlied über Frontrealitäten.

Atmosphärische Dichte scheint ein Bestreben im Songwriting der 2015 auf einer Osteuropareise gegründeten Band aus Hamburg, Berlin und Dresden gewesen zu sein. Belgrad bestehen aus Hendrik Rosenkranz, Ron Henseler, Stephan Mahler, Leo Leopoldowitsch und waren vor ihrem aktuellen Projekt unter anderem bei Slime, Kommando Sonne-nmilch, Stalin vs. Band und Dikloud aktiv. Deutschpunk-Supergroup also. Denkste!

Ähnlich organisch wie ihre Entwicklung vom Duo zur Band ergab sich die Findung ihres Sounds im Verlauf der Albumproduktion. Belgrad fassen Musik als „fortwährende Verhandlung und Verwandlung“ auf. Das Debüt ist also als eine Momentaufnahme zu verstehen, welche sich zwischen Postpunk, New Wave und 80er-Pop einsortieren lässt und klingt, als hätten sich die Herren im besagten Jahrzehnt mit The Cure und DAF einen Proberaum geteilt.

Textlich entpuppen sich Belgrad als aufmerksame Beobachter. Die giftige Kombination aus Empathielosigkeit und sozialer Isolation wird in „Eisengesicht“ behandelt. Der mit Abstand krachigste Track, steigert sich Takt für Takt. Heisere Stimmen skandieren: „Dieser Weg führt nur nach unten und er geht allein.“ Dazu scheppernde Becken, Gitarrenfeedback und pluckernde, surrende Synthies. Ein langer, synthetischer Heuler beschließt das intensive Finale und untermalt die düstere Einbahnstaßen-Stimmung.

Neben Alltagsbeobachtungen nehmen Belgrad auch die humanitäre Lage in Zeiten von Flucht und Vertreibung in ihren Themenkatalog auf. Zeilen wie „dieser Weg voller Elend und Entbehrung/ am Rand feilschen Händler um billige Waren“ im Track „Westen“ weisen auf die Strapazen und Profiteure der kriminalisierten Migration hin. Trotz einer „Fata Morgana“ die Richtung Westen führt, wird die Odyssee der Geflüchteten in eine unklare Zukunft von einem hoffnungsvollen musikalischen Motiv kontrastiert.

Ruhe- und Höhepunkt des Albums ist die Single „Niemand“, die sich im Musikvideo mit schwarz-weißen Erinnerungsschnipseln aus der DDR schmückt. Langsam zieht der Song seine Schleifen bis zum Refrain, der mit verhallter Slide-Gitarre und einem Chor untermalt wird. Das passt ideal zur melancholischen Reflektion über Erinnerungen und deren Haltbarkeit.

Wem der Song zu ostalgisch ist, bekommt dafür Systemkritik in der Mikroperspektive bei „Schellack und Gewalt“. Dieser Song erzählt, begleitet von The Cure-Gedenk-Synthies und Stakkato-Geigen, die traurig-skurrile Geschichte einer Pianistin in der Sowjetunion. Da Stalin großer Fan ihrer Musik war, es aber keine Aufnahmen gab, ließ der Diktator sie mitten in der Nacht aus ihrem Dorf in die nächste Stadt verschleppen, um ihm ein Stück in Schellack einzuspielen.

Analog dazu, dass ihre Themen zwischen Vergangenheit und Gegenwart wandeln, schaffen es Belgrad ihre Einflüsse aus Postpunk und Wave mit kontemporären Elementen zu bereichern, was in Zeiten des kollektiven 80er-Revivals noch lange nicht jedem gelingt. Darüber hinaus fesseln die atmosphärisch dichten Songs und Texte über weite Strecken und bescheren ein spannendes Kopfkino. Ein gelungenes Debüt.

Veröffentlichung: 1. September 2017
Label: Zeitstrafe

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