Kendrick Lamar – „Mr. Morale & The Big Steppers“ (Album der Woche)

Mr. Morale & The Big Steppers“ von Kendrick Lamar, das unser ByteFM Album der Woche ist.

Kendrick Lamar – „Mr. Morale & The Big Steppers“ (Top Dawg Entertainment)

Wir schreiben das Jahr 2017 und Kendrick Lamar veröffentlicht sein viertes Studioalbum „DAMN.“ Die LP, die dem Rapper aus Compton einen Pulitzer-Preis bescheren sollte, war für einige seiner Fans eine kleine Enttäuschung. Speziell für die Fans, die er mit seinen Vorgänger-Platten „Good Kid, M.A.A.D City“ und „To Pimp A Butterfly“ gewonnen hatte. Zwei komplexe HipHop-Epen, gefüllt mit vielschichtigen Handlungssträngen und übersprudelnder Musikalität.

Dementsprechend hoch waren die Erwartungen an „DAMN.“ – welches sich dann als eine sehr fokussierte, fast schon minimalistische Angelegenheit entpuppte. Es war K-Dots Version eines Mainstream-HipHop-Albums. Inklusive seines ersten Nr.-1-Smash-Hits „Humble“. Keine konzeptionelle oder verkopfte Rap-Dissertation über den US-amerikanischen Status quo, sondern einfach ein sehr gutes Album. Für manche war das aber einfach nicht genug.

Ein Mammutwerk

Tja, nun. Fünf Jahre nach „DAMN.“ hat Kendrick Lamar endlich den Nachfolger veröffentlicht. Seine fünfte LP wurde ohne große Fanfare angekündigt. Lamar verkündete einfach den kryptischen Titel und ein Datum. Er wusste, dass das ausreicht. Und wer unzufrieden mit der kompakten Natur des Vorgängers war, sollte sich festhalten. „Du willst ein verdammtes komplexes Mammutwerk?“, scheint Lamar zu fragen. „Das kannst Du haben!“ „Mr. Morale & The Big Steppers“ ist ein gigantisches, hochambitioniertes, überforderndes Doppelalbum, auf dem Lamar in so ziemlich alle Richtungen gleichzeitig ausholt.

So überfordernd, dass es ziemlich schwer bis unmöglich ist, dieses Album wenige Tage nach Veröffentlichung komplett zu durchsteigen. Wie auch „To Pimp A Butterfly“ ist „Mr. Morale & The Big Steppers“ von vielschichtigen Leitmotiven durchzogen. Lamar spricht im Opener „United In Grief“ darüber, eine Therapie begonnen zu haben – was gut passt, denn große Teile dieses Albums fühlen sich wie eine schmerzhafte Selbstreflexion an. Die Stimme des deutschen spirituellen Autors Eckhart Tolle (und sein Konzept des „Schmerz-Körpers“, der immer mehr Schmerz braucht, um zu überleben) geistert durch das Album, wie ein Mentor. Genau wie eine vom R&B-Künstler Sam Dew gesungene Melodie. Die Töne bleiben gleich, doch der Text ändert sich. Am Anfang singt Dew „I hope you find some peace of mind in this lifetime“. Am Ende heißt es: „I bare my soul and we are free.”

Von Schmerz-Körpern und Generationstraumata

Als Beispiel für diese introspektiven Momenten kann „We Cry Together“ herangezogen werden: Ein Song, bei dem man sich als Zuhörende*r selbst wie ein*e Paartherapeut*in fühlt. Der Track ist ein heftiger Beziehungsstreit, performt von Lamar und der Schauspielerin Taylour Paige. Genau wie der leicht dissonante Piano-Beat von The Alchemist balanciert der Song zwischen Entertainment und Unerträglichkeit. Mit jeder Minute werden die Worte bitterer, aus privaten Anschuldigungen werden überschwängliche Generalisierungen. Paige: „You the reason R. Kelly can’t recognize that he’s abusive.” Lamar: „Let’s talk the truth / Women in general just can’t get along.“ Die beiden Protagonist*innen mögen sich am Ende des Songs wieder in den Armen liegen, doch das Publikum bleibt erschüttert.

Ein weiteres massives Thema: Trauma. Besonders in der näheren Familie. „Mother I Sober“ ist das emotionale Epizentrum dieses Albums, in dem Lamar die Missbrauchs-Geschichte seiner Mutter aufarbeitet. Solche tief sitzenden Traumata werden von Generation zu Generation immer auf irgendeine Art und Weise weitergeben – und Lamar weiß, dass das nicht nur in seiner Familie der Fall ist: „A conversation not bein‘ addressed in Black families / The devastation, hauntin‘ generations and humanity / They raped our mothers, then they raped our sisters / Then they made us watch, then made us rape each other.“

Stoff für Doktorarbeiten

Auch in „Auntie Diaries“ bezieht er sich auf seine Familie, seinen Onkel und seine Cousine – und ihre jeweiligen Coming-outs. Lamar reflektiert seine Beziehungen zu beiden, seine eigene, internalisierte Homo- und Transphobie – die in großen Teilen der HipHop-Szene immer noch weit verbreitet ist, wie die jüngsten Bühnen-Kontroversen von Rappern wie DaBaby beweisen. Der Song ist einerseits ein weiteres sehr berührendes Stück, das definitiv gut gemeint ist, das aber andererseits auch von Teilen der LGBTQ+-Community kritisiert wird, da Lamar in dem Song homophobe Schimpfwörter benutzt und trans* Personen bei ihrem „toten“ Namen und mit falschen Pronomen nennt. Das macht er nicht ohne Grund, sondern um einen Wandel zu zeigen (in der letzten Strophe verzichtet er auf das Schimpfwort und nennt seine Familienmitglieder bei ihrem richtigen Pronomen). Ob diese Hate-Speech als Stilmittel hier gerechtfertigt ist? Das können am Ende nur trans* Personen beantworten.

Alle jene Beobachtungen kratzen jedoch nur an der Oberfläche dieses Albums. „Mr. Morale & The Big Steppers“ ist eines dieser Alben, über die man ganze Doktorarbeiten schreiben könnte. Über die Momente, in denen Kendrick Lamar in gewohnter Virtuosität die vielleicht berührendste und ambitionierteste HipHop-Musik dieses Planeten macht. Und über die Momente, in denen er über sein Ziel hinausschießt. So viel lässt sich auf jeden Fall zu diesem Zeitpunkt sagen: „Mr. Morale & The Big Steppers“ ist ein Ereignis, an dem wir alle noch ganz schön lange kauen werden.

Veröffentlichung: 13. Mai 2022
Label: Top Dawg Entertainment

Bild mit Text: „Ja ich will Radiokultur unterstützen“ / „Freunde von ByteFM“

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