Cassandra Jenkins – „An Overview On Phenomenal Nature“ (Rezension)

Bild des Albumcovers von „An Overview On Phenomenal Nature“ von Cassandra Jenkins

Cassandra Jenkins – „An Overview On Phenomenal Nature“ (Ba Da Bing)

8,7

Wir schreiben den März 2021 und eines scheint dem Autoren dieses Textes klar: Das schönste Album des Jahres ist bereits erschienen. Diese schamlose Übertreibung sei hier verziehen. Es fällt nun einmal schwer, den Sound des neuen Albums von Cassandra Jenkins zu beschreiben, ohne in Superlativen zu schwelgen. „An Overview On Phenomenal Nature“, das zweite Album der US-amerikanischen Musikerin, wird seinem Titel absolut gerecht. Diese sieben Songs fühlen sich tatsächlich so an, als würde man vom Alpengipfel ins nebelverhangene Tal blicken.

Jenkins erreicht diesen Effekt nicht etwa mit monumentalem Post-Rock. Sondern mit Folk. Im Kern sind sechs der sieben Stücke relativ schlichte Akustikgitarren-Songs, die von Ambient-Ornamenten in höhere Stratosphären gehoben werden. Jenkins riss diese astrale Americana-Vision bereits auf ihrem 2017er Debüt „Play Till You Win“ an. Während diese Songs noch sehr am Laurel-Canyon-Folk der US-amerikanischen 60er- und 70er-Jahre angelehnt waren, ist „An Overview On Phenomenal Nature“ ein ganz eigenes Wesen.

Musik aus flüssigem Gold

Die Klänge sind nicht unbekannt: Slide-Gitarren, Piano, trockenes Schlagzeug, warmer Gesang. Doch die Umsetzung macht sie besonders. Die Snare vom Drummer JT Bates (der bereits Taylor Swifts letzte Americana-Exkursion „Folklore“ veredelte) klingt so weich und dreidimensional, als könnte man sie förmlich anfassen. Annie Neros Bass streichelt unmittelbar und sanft das Zwerchfell. Saxofonist Stuart Bogie (dessen wilde Diskografie von Foals über Arcade Fire bis zu Run The Jewels reicht) spielt Melodien aus flüssigem Gold. In „Crosshair“ erklingt das vielleicht schönste E-Gitarren-Gedudel seit Wilcos „Impossible Germany“.

Und auch die restlichen von Jenkins und ihrem Produzenten Josh Kaufman ausgeklügelten Arrangements klingen so phänomenal natürlich, wie der Albumtitel verspricht. Am Ende der Platte halten sie mit „The Ramble“ für sieben Minuten die Zeit an. Mit purem Ambient, der wie ein seelenruhiger Bach vor sich hinfließt.

Surreal und tröstend

Diese fast surreal schöne Musik unterstützt Jenkins in der Single „Hard Drive“ mit ebenso bewusstseinserweiterndem Spoken-Word-Gesang: „I asked the bookkeeper / At the end of the seventh ray / To tell me what he knew about Saint Germain / And he told me about chakras and karma and the purple flame“, singt sie. Und ihr Buchhalter fasst eine grundsätzliche Absurdität des Menschseins sehr greifbar zusammen: „He said, ‚you know the mind / The mind is just a hard drive‘.“

Manchmal kontrastieren ihre Texte aber auch die Harmonie. Verlust ist auf „An Overview On Phenomenal Nature“ ein omnipräsentes Thema: „I’m a three-legged dog, working with what I’ve got / And part of me will always be looking for what I lost“, singt sie im Opener „Michelangelo“. Anderswo wird der Verlust explizit: „No matter where I go / You’re gone, you’re everywhere / Farewell, Purple Mountains“, singt sie in „Ambiguous Norway“. Ein musikalischer Nachruf auf den 2019 verstorbenen David Berman. Die sanfte Musik wirkt hier wie eine liebevolle Umarmung, die sich um die traurigen Worte legt. Cassandra Jenkins’ Musik kann nicht nur den Atem rauben. Sie kann auch trösten. Und das ganz ohne Übertreibung.

Veröffentlichung: 19. Februar 2021
Label: Ba Da Bing

Bild mit Text: Förderverein „Freunde von ByteFM“

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