Steve Reichs „Drumming“ und „Music for 18 Musicians“ im Rahmen von Berlin Atonal

Musiker, die Steve Reichs Music for 18 Musicians live interpretieren„Drumming“ und „Music for 18 Musicians“ wurden beim Eröffnungskonzert von Berlin Atonal interpretiert (Foto: Camille Blake)

Diese Trommelschläge, jeder einzelne wie eine Symphonie, in der stillgelegten Heizkraftwerkhalle mit ihren 20 Meter hohen Wänden aus Beton, die selbst den Klang eines Staubkorns ins Unermessliche ausdehnen würden. Später dann noch mehr Trommelschläge, die sich polyrhythmisch überlagern und in einem diffusen Klangrausch münden, bis nichts mehr Sinn ergibt, nein, bis eigentlich alles Sinn ergibt. Es ist diese psychoakustische Verwirrung zwischen Hypnose und Musikanalyse, die die Musik des US-amerikanischen Komponisten Steve Reich so faszinierend macht. Das von vier Schlagzeugern performte „Drumming“, bei dem die Musiker zunächst unisono eine rhythmische Abfolge spielen, bevor sie ihre Schläge immer mehr gegeneinander verschieben, ist das erste von zwei Stücken des Eröffnungskonzerts des Berlin Atonal Festivals. Komponiert wurde das Meisterwerk der Minimal Music zu einer Zeit, in der die Phasenverschiebungen, ein zentraler Bestandteil des Stücks, noch nicht elektronisch erzeugt werden konnten. Umso interessanter, dass das Festival neben diesem Klassiker der Minimal Music vor allem Künstler aus dem Bereich experimenteller elektronischer Musik, Techno und Bassmusic vereint.

„Drumming“ war an diesem Abend nur das Intro. Die meisten der rund 1200 Besucher sind wegen „Music for 18 Musicians“ gekommen, das vom Frankfurter Neue-Musik-Orchester Ensemble Modern und dem Londoner Vokalensemble Synergy Vocals aufgeführt wird. Es ist das wohl berühmteste Orchesterstück des New Yorker Komponisten. Vermutlich auch, weil hier die Virtuosität Reichs am deutlichsten wird. Sie besteht vor allem darin, Komplexität und Komplexitätsreduktion gleichzeitig zu erzeugen. Die Hörer werden zum selektiven Hören herausgefordert, ständig zwischen erhöhter Konzentration und Trance changierend, immer der nächsten subtilen Tonveränderung hinterherjagend. Vibraphone, die minutenlang ein kurzes melodisches Motiv wiederholen, Violinen, die es aufgreifen, ergänzen und anschließend an die beiden Klaviere zurückbeamen, bis das ursprüngliche Motiv nur noch eine abstrakte Erinnerung ist, bevor die Vibraphone es wieder adaptieren. Musik, die ein- und ausatmet, wie ein lebendiger Organismus, der weiß, dass ihn nur wiederholte Atemzüge am Leben erhalten können.

Die aus der Repetition entstehende Trance passt zur kommunistischen Atmosphäre des Abends, an dem unterschiedliche musikalische Epochen, aber auch Lebensstile aufeinandertreffen. Bildungsbürger im fortgeschrittenen Alter sitzen rotweintrinkend auf Stühlen, daneben ein paar Technonerds, und niemand stört sich trotz strengen Rauchverbots an den hinter ihnen auf dem Boden sitzenden Männern, die genüsslich einen Joint nach dem anderen qualmen.

Dass das Festival mit einem der Pioniere der Minimal Music beginnt, entspricht der Logik von Berlin Atonal, das 2013 unter der Leitung Dimitri Hegemanns reaktiviert wurde, nachdem es von 1982 bis 1990 zu einem der wichtigsten Festivals Berlins avancierte. Schon damals baute das Line-up, das die Einstürzenden Neubauten mit dem Techno-Künstler Jeff Mills zusammenbrachte, eine Brücke zwischen Vergangenheit und Gegenwart, aber auch zwischen Clubkultur, Pop und Kunst. Auch heute, im Zeitalter der längst überwundenen Postmoderne, lohnt es, sich die musikalischen Parallelen zwischen Steve Reich und aktueller Clubmusik zu vergegenwärtigen. Immerhin war er zusammen mit seinen Gefährten Terry Riley und Philip Glass zu Beginn der 60er-Jahre einer der ersten, die Repetition und minimalistische Kompositionsverfahren für die Orchestermusik etablierten – und damit den Weg für Krautrock und den Prototechno von Kraftwerk ebneten.

Miminal Music wurde Ende der 60er neben ein paar Kennern höchstens von vereinzelten Hippies auf der Suche nach der musikalischen Erleuchtung gehört. Wie dieser Abend zeigt, wird sie heute vor allem von Clubmusikanhängern geschätzt, die in einer Welt aufgewachsen sind, in der die Repetition von Tönen und rhythmischen Mustern längst Normalität ist. „I had a religious experience, man“, erzählt mir ein Dubstep-DJ nach dem Konzert. So wie ihm ging es vermutlich vielen. Und so gelingt es Berlin Atonal, aus den vielen losen Verbindungen einen Bedeutungsteppich zu knüpfen, der die Musik vom Bristoler Bassmusic-Kollektiv Young Echo, den traumwandlerischen Ambient von Biosphere, den rauen Industrial von Cabaret Voltaire und den zähflüssigen Techno von Sigha zusammenhält. Zum Schluss von „Music for 18 Musicians“ gibt es tosenden Applaus mit Endloshall. Das perfekte Intro für die DJ-Sets im „Tresor“, etwa 25 Meter weiter unter uns.

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