Der neoliberale Traum – Produktivität trotz Leiden

Foto eines Pappbechers mit einem traurigen Smiley

Der feuchte Traum des Neoliberalismus: Auch wer traurig ist, muss abliefern

Zur Hochzeit der Castingshows, irgendwann zu Beginn der 2000er, da war oft den Teilnehmer*innen der Erfolg, oder zumindest ein Weiterkommen sicher, die eine möglichst tragische und herzzerreißende Lebensgeschichte vorzuweisen hatten. Nun mag die große Zeit dieser Shows vorbei sein – Dieter Bohlen ist zwar zurück; diverse Nachfolger*innen haben sich als nicht besonders brauchbar entpuppt – doch die Geschichten der vom Leid geplagten Künstler*innen werden immer noch gerne erzählt. Castingshowteilnehmer*innen bezeichnen wir hier mal als Künstler*innen, damit Text und Autorin den gewünschten Punkt machen können. Und dieser ist nicht das Aufdröseln des Kunstbegriffs.

Die Erzählung des oder der leidenden Kunstschaffenden ist immer vor allem auch die der produktiven Künstler*innen. Denn die Produktivität ist nun einmal die Voraussetzung dafür, dass überhaupt erzählt wird. Und so sind wir, nach nur zwei kleinen Abbiegern auch schon mitten im feuchten Traum des Neoliberalismus. Produktivität trotz Leid. Ja, trotz, so wie ein großer Teil der lohnarbeitenden Bevölkerung trotz Krankheit arbeiten geht.

Alles muss authentisch sein!

Der absolut dümmste Satz, den man in musikjournalistischen Arbeiten, wie Bandportraits oder Alben-Rezensionen lesen kann ist ja folgender: „Für Künstler*in XY ist Musikmachen Therapie.“ Ein Satz zum Haareraufen, zum Weglaufen und Nie-wieder-Zurückkommen. Ein Satz, der die Autorin dieses Textes regelmäßig wütend bis resigniert zurücklässt. Um zu beweisen, wie dumm dieser Satz ist, folgt hier ein anderer, der sicherlich so noch nie gefallen ist: „Für Büroangestellten XY ist Arbeiten wie Rückengymnastik.“ Beweisführung abgeschlossen. Auf dem Schreibtischstuhl zu sitzen, heilt keine Rückenschmerzen und Musikmachen keine Depressionen. Was nämlich eigentlich wie Therapie ist? Therapie!

Aber wie entstand das Musik-ist-Therapie-Gleichnis? Und warum erfreut es sich so großer Beliebtheit? In einer Welt, in der nichts richtig ist, muss alles authentisch sein. Also kommt traurige Musik von traurigen Menschen. Aber natürlich muss das Individuum auch abliefern, bevor es gut gelaunte Musik machen darf. Es muss an sich arbeiten. Muss zur Selbstliebe und Selbstakzeptanz gefunden haben, muss sich und den Körper mindestens mal „feiern“. Nur das gegebene Annehmen ist ja fast schon Selbsthass. Übrig bleibt die Fassade des Authentischen, das nicht mehr kritisierbar ist. Und Authentizität ist damit vor allem eines: Ideologie.

Der von Leid geplagte, produktive Künstler oder die Künstlerin verfestigt den Glauben daran, dass es das intrinsische Bedürfnis nach Arbeit gibt. Er ist der neoliberale Idealtypus des Arbeiters oder der Arbeiterin, von dem wir alle noch viel lernen können. Wenn der Lohn aller Kunstschaffenden Authentizität und das Überwinden der eigenen Depressionen ist, dann entschädigt sie das gleichzeitig auch für die geleistete Arbeit. Ideell natürlich. Das sollte ja auch reichen und folglich muss sich niemand mehr mit den unterirdischen Bezahlungsmodellen von Streamingdiensten und Co. auseinandersetzen. Oder damit, dass es, sollte die Musik als Therapie mal nicht mehr reichen, auch gar nicht genügend Therapieplätze für alle gibt.

Bild mit Text: Förderverein „Freunde von ByteFM“

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