Burial – „Antidawn“ (Rezension)

Von Marius Magaard, 13. Januar 2022

Bild des Albumcovers von „Antidawn“ von Burial.

Burial – „Antidawn“ (Hyperdub)

7,9

Auf Gefahr hin, extrem norddeutsch zu klingen: Wart Ihr schon einmal Wattwandern? Das ist auf diesem Planeten schon ein ziemlich einzigartiges Erlebnis. Je weiter man sich von der Küste entfernt, desto größer wird ein dieses Gefühl von Machtlosigkeit. Inmitten dieses klammen Niemandslandes wird der Mensch wirklich mit seinen Gedanken alleine gelassen, nur umgeben von Schlamm, Nebel und einem schier endlosen Horizont.

Wem diese Erfahrung aus geografischen oder sonstigen Gründen nicht zugänglich sein sollte, kann zum Glück auf die neue EP von Burial zurückgreifen. „Antidawn“ transportiert das beschriebene Gefühl nämlich ziemlich gut. Das britische Post-Dubstep-Phantom hat auf seinem neuesten Werk nahezu sämtliche Halt gebende Beats im Hafen gelassen und begibt sich ins tiefste Ambient-Nebelmeer.

Dass eine Burial-Platte überhaupt derartige Naturbilder heraufbeschwören kann, ist schon bemerkenswert. William Emmanuel Bevans Tracks waren bisher pure Stadtmusik. Seine ersten beiden (und bisher einzigen) LPs „Burial“ und „Untrue“ waren impressionistische Nachtaufnahmen von menschenverlassenen Gassen, einsamen U-Bahn-Stationen und heruntergekommenen Industrie-Bezirken. Das Knistern und Knarzen seiner 2-Step-Beats und seine geisterhaften Gesangssamples konnten alltägliche Orte wie Fastfood-Restaurants wie heilige Schreine wirken lassen. Die zahlreichen EPs und Singles, die er im Verlauf des vergangenen Jahrzehnts veröffentlichte, führten diese Grundstimmung fort. Auch die formlosesten Exkursionen, wie die 2021 veröffentlichte B-Seite „Dolphinz“, waren von urbaner Romantik durchzogen.

Alleine mit Deinen Gedanken im Nebelmeer

Was macht „Antidawn“ zur naturalistischen Ausnahmeerscheinung? Das lässt sich nicht so genau benennen. Generell lässt sich diese EP ohnehin ziemlich schwer greifen. Und darin liegt auch die Antwort: Noch nie bot Burial seinem Publikum so viel Projektionsfläche wie hier. Im Verlauf von fünf Tracks und 45 Minuten gibt es nur eine einzige Bassdrum-Sequenz zu hören, in der zweiten Hälfte von „New Love“.

Der Rest von „Antidawn“ besteht fast ausschließlich aus schwerelosen Synthesizer-Wellen. Die Bevans Musik eigentlich so auszeichnenden, gesampleten R&B-Vocals kommen und gehen binnen Sekunden – und klangen noch nie so geisterhaft. Dazu ertönen wiederkehrende Geräusch-Ornamente: das Knistern einer Plattennadel. Das Klackern eines Feuerzeugs. Das Rauschen einer Halt suchenden Radioantenne. Und das war es auch schon mit der Struktur. Manchmal vermisst man das Burial’sche Beatgeklacker in diesem beatlosen Ozean, das Tracks wie „Archangel“ oder „Kindred“ zu modernen Klassikern machte. Stattdessen lässt Bevan seine Hörer*innen für eine Dreiviertelstunde mit ihren Gedanken alleine – sofern sie sich darauf einlassen. Und das ist mindestens heutzutage ein ziemlich einzigartiges Erlebnis.

Veröffentlichung: 6. Januar 2022
Label: Hyperdub

Bild mit Text: Förderverein „Freunde von ByteFM“

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