Gwenno – „Tresor“ (Heavenly Recordings)
Wir schreiben das Jahr 1800, im südwestlichsten Zipfel Englands. Dort liegt die Grafschaft Cornwall. Eine Region, in der damals über 190.000 Menschen wohnten. Sprachwissenschaftler*innen zufolge markiert dieses Jahr den Moment, als kein einziger dieser Menschen mehr die Muttersprache Cornwalls beherrschte. Im späten 18. Jahrhundert lassen sich noch ein paar auf Kornisch verfasste Briefstücke lokalisieren, doch ab der Jahrhundertwende endet die Spur. Kornisch ist offiziell ausgestorben.
Das war aber nicht das Ende vom Lied. Was eine Sprache beispielsweise einer ausgerotteten Tierart voraus hat: Sie kann wieder zum Leben erweckt werden. 1904 erschien das „Handbook Of The Cornish Language“ – und mit ihm begann die langsame Wiederauferstehung der kornischen Sprache. Die betrifft auch die Musik: Kornische Folk-Stücke gewannen im British Folk Revival an neuer Popularität. Der in Cornwall geborene IDM-Weirdo Aphex Twin betitelte einige Stücke seines 2001er Albums „Drukqs“ in dieser Sprache. Doch die wichtigste Figur der modernen Kornisch-Renaissance dürfte Gwenno sein. Die britische Musikerin mag in Wales geboren sein, doch ihr Vater sprach seit ihrer Kindheit mit ihr kornisch. Diese bilinguale Biografie zeigt sich auch in ihrer Diskografie: Auf ihrem 2014 veröffentlichten Debütalbum „Y Dydd Olaf“ sang sie noch auf Walisisch – ab dem 2018er Nachfolger „Le Kov“ wechselte sie jedoch zu der ihr quasi in die Wiege gelegten Sprache.
Krautrock auf Kornisch
„Tresor“, ihr nun erscheinendes drittes Album, ist demnach bereits ihre zweite LP auf Kornisch. Doch wie klingt das eigentlich? Bei der alten, mystischen Aura dieser Sprache würde man vielleicht einen archaischen Folk-Sound vermuten. Doch Gwennos Musik ist durchaus nostalgisch – aber bezieht sich auf eine andere Zeit: „An Stevel Nowydh“ eröffnet das Album mit federleichtem Psych-Pop-Vibes. Die spitzen E-Gitarren in „Anima“ erinnern an die „Soundtracks“ von Can – und auch das siebenminütige „Ardamm“ kommt mit motorischem Krautrock-Groove daher.
Im Kontrast zu den Retro-Klängen stehen die stark im Hier und Jetzt verwurzelten (und durch die Sprachbarriere natürlich nicht so leicht zugänglichen) Texte: Songs wie der Titeltrack „Tresor“ oder „Tonnow“ sind feministische Meditationen, während „N.Y.C.A.W.“ eine Kampfansage an die Gentrifizierung ihrer Heimat Wales ist. Diese einst totgesagte Sprache ist für Gwenno nur ein Medium, um äußerst lebendige Musik zu machen.
Veröffentlichung: 1. Juli 2022
Label: Heavenly Recordings