Tierra Whack – „World Wide Whack“ (Interscope Records)
Bald launig, Bald launisch, gern auch beides zugleich: Tierra Whack ist thematisch und musikalisch nicht leicht festzunageln. „Rap?“, „Pop?“, „R&B“ – so hießen drei EPs, die sie im Dezember 2021 im Abstand von je einer Woche veröffentlichte. Zwar passte die Musik grob zum jeweiligen EP-Titel, aber auch wirklich nur ganz grob. Denn selbstverständlich fanden sich Rap, Pop und R&B auf allen drei Veröffentlichungen. Und ebenso selbstverständlich erzählten die Titel nicht die ganze Geschichte. So gehörten etwa Post-Punk, Southern Rock, Soul und Country zu den deutlich hörbaren Einflüssen. Fast schien es, als wollte die US-amerikanische Rapperin und Sängerin uns spöttisch vor Augen führen, wie witzlos es ist, sie mit Genrebegriffen fassen zu wollen. Selbstverständlich wähnen sich alle von künstlerischem Anspruch angetriebenen Acts in ihrem Wunschdenken fernab der Genreschubladen.
Meist ordnen wir sie trotzdem mühelos einer Musikrichtung zu. Denn wenn wir über Musik sprechen, brauchen wir Stilbezeichnungen. Aber was für Musik macht Tierra Whack noch gleich? Pop? Ja, das ist alles, was nicht U- oder E-Musik ist. Rap? Ganz bestimmt: Tierra Whack rappt häufig. R&B? Okay, wenn sie über HipHop-Beats singt, statt zu rappen, nennt man das wohl R&B. Klare, einfache Antworten auf klare, einfache Fragen. Und unfassbar allgemein. Sehr viel spannender ist der Umstand, dass die Künstlerin aus Philadelphia bei allen möglichen Genres wildert und dabei ihre einzigartige Handschrift bewahrt. Bald launig, bald launisch, ist sie immer, wohin ihre Stimmungsschwankungen sie führen. „My look familiar but I promise you don’t know me“, versichert sie auf „World Wide Whack“ im Opener „Mood Swings“.
Legosteine statt Konzeptkunst
Wenn wir eine grobe Hausnummer brauchen: „World Wide Whack“ ist ein HipHop-Album. Keine Frage. Tierra Whack hat das Rap-Handwerk von der Pike auf gelernt und sich als Teenager zwischen fast ausschließlich männlichen MCs bei Freestyles behauptet. Doch wie ihr Musikgeschmack erstreckt sich auch ihre Liebe zum Wort über das Rap-Game hinaus. So schreibt sie etwa seit Kindheitstagen Gedichte und ist zudem Spoken-Word-Performerin. Als sie 2017 ihre ersten Singles veröffentlichte, klang sie wie niemand anders. Ihre Klangwelt war karg, aber effektiv. In ihr prägten sparsam eingesetzte, freundliche und manchmal psychedelische Synth-Melodien das Bild. Der avantgardistische Producer Flying Lotus erkannte, dass Whack etwas Besonderes war und nahm sie noch im selben Jahr mit auf Tour. 2018 gab Tierra Whack mit „Whack World“ ihr ungewöhnliches Albumdebüt. Als Longplayer ist es jedenfalls kaum zu bezeichnen – es besteht aus 15 einminütigen Vignetten. Ihre nächste Veröffentlichungsviertelstunde bestritt sie 2019 mit fünf im Wochentakt veröffentlichten Singles.
Vor diesem Hintergrund ist Whacks Longplay-Debüt veröffentlichungspolitisch eher konventionell. Denn ohne großes Formatkonzept erwarten uns 15 Songs in knapp 40 Minuten. Statt auf Krampf einen großen Überbau übers Knie zu brechen, beschert uns Tierra Whack ein ganz normales herausragendes Rap-Pop-R&B-und-so-weiter-Album. Hier ist jeder Song ein Einzelstück, das keinem anderen gleicht. Aber trotzdem greifen alle stimmig ineinander wie bei einem Gebäude aus bunten Legosteinen. Nachdem Whack für die „Mood-Swings“-Begrüßung 90s-Smooth-Soul-Balladen-Synths zum schmooven Autotune-Rap-Track upcycelt, ist „Ms Behave“ eine Lehrstunde der Sparsamkeit. So spielt sie auf 808-Subbass, einem einzigen Percussion-Loop und einer sporadisch eingesetzten Synth-Fläche ihre Freestyle-Battle-Erfahrung aus. Auch wenn es unwahrscheinlich klingt: Das Ding swingt wie Hölle.
Duschgesang und imaginäre Freunde
Die Themen unseres Albums der Woche sind so unterschiedlich wie seine Beats. Im vorab als Single veröffentlichten Song „Chanel Pit“ etwa rappt Whack auf 90s-Videospiel-Bauklotz-Beats davon, wie man vertraute Menschen am Geruch erkennt. Die quasi beatlose andere Vorabsingle „Club 27“ wiederum schildert die Kehrseite des Ruhms. Denn der Erfolg von „Whack World“ hielt die Künstlerin nicht nur sechs Jahre lang über Wasser. Der einhergehende Erfolgsdruck stürzte sie auch in eine lebensbedrohliche Depression. Erst durch eine Therapie schaffte sie es aus ihrer kreativen und existenziellen Krise. Andere Songs wiederum erfrischen gerade durch ihre alltäglichen, aber selten besungenen Themen. So handelt „Shower Song“ vom befreienden Gefühl des Singens unter der Dusche, wo man auf einmal klingt wie die Stars. Mit seinem elektronischen Boogie-Beat gehört der Track zu den Bangern des Albums.
Während „Imaginary Friends“ über Unterwassergitarren einen erstaunlich ausgestalteten imaginären Freundeskreis schildert, rechnet der perkussive Brecher „X“ mit einem sehr realen, dafür aber unterqualifizierten Lover ab. Daran schließt der offensichtliche Hit des Albums an, sowohl was den Stoff als auch seine Umsetzung angeht. Im Midtempo-Dancefloor-Bop „Moovies“ singt Whack nämlich wie ein etwas humorvollerer The Weeknd über Kino-Dates. Vom Universellen über das Banale bis zum zutiefst Persönlichen hält Tierra Whacks Legowelt so ziemlich alle Bereiche parat, die uns beschäftigen. Und all das spiegeln kongenial das Songwriting und die radikal eigenwillige und dennoch stimmige Produktion.
Veröffentlichung: 15. März 2024
Label: Interscope Records