Mythisches Meisterstück: 50 Jahre „The Köln Concert“ von Keith Jarrett

Von Rainer Szimm, 24. Januar 2025

Cover des Albums „The Köln Concert“ von Keith Jarrett

Keith Jarrett – „The Köln Concert“ (Warner)

Dass der US-amerikanische Jazzpianist Keith Jarrett am 24. Januar 1975 gegen 23.30 Uhr die Bühne des Kölner Opernhauses vor gut 1400 Zuschauer*innen betrat, war in erster Linie der Energie und dem Beharrungsvermögen einer jungen Frau zu verdanken. Das sogenannte „Köln Concert“ ist anekdotenumrankt, was wohl auch zum Legendenstatus der Konzertaufnahme beitrug. Das im November 1975 erschienene Album wurde etwa vier Millionen Mal verkauft und gilt als die kommerziell erfolgreichste Jazz-Soloplatte. Der zuweilen kultisch verehrte Longseller fand nicht nur Liebhaber*innen in Jazz-Zirkeln, sondern auch unter Pop-, Rock- und Countryfans.

Keith Jarretts Performance an jenem Freitag vor 50 Jahren war nicht nur ein Höhepunkt seiner Fähigkeiten als Improvisator, sondern auch die Überwindung der Widrigkeiten, die seinen Auftritt anfangs fast verhinderten, waren eine Meisterleistung der Improvisation.

Die Schülerin und der Jazz-Star

Es war der damals 18-jährigen Vera Brandes zu verdanken, dass der 29-jährige Star überhaupt den Weg nach Köln fand. Die jazzbegeisterte Schülerin hatte trotz ihres jungen Alters schon einige Meriten als Konzertveranstalterin einheimsen können. Über familiäre Bande knüpfte sie einige Jahre zuvor Kontakte zur Jazz-Szene und organisierte danach erste Auftritte. Für ihre Veranstaltungsreihe „New Jazz in Cologne“ verpflichtete Brandes 1974 bereits Bands wie Oregon um den Gitarristen Ralph Towner, die Gruppe Pork Pie mit Charlie Mariano und Jasper van’t Hof und das Quartett um den Vibrafonisten Gary Burton. Sie hatte gezeigt, dass sie Hallen füllen konnte. Das Konzert von Keith Jarrett sollte das fünfte in diesem Format werden.

Jarrett befand sich seinerzeit auf ausgedehnter Konzerttour. Brandes überzeugte ihn und den Musikproduzenten Manfred Eicher, den Mitgründer des Münchner Labels ECM, einen Abstecher in die Domstadt zu machen. Sie gewann sogar die prestigeträchtige Kölner Oper als Austragungsort für das Konzert. Als bekannt wurde, wer dort spielen sollte, waren die gut 1400 Karten (Stückpreis vier Mark) schnell ausverkauft. Jarrett besaß bereits damals einen klangvollen Namen. Der äußerst versierte Klavierspieler hatte vorher unter anderem mit dem Drummer Art Blakey, dem Saxofonisten Charles Lloyd und als E-Pianist von 1969 bis 1971 in der Jazzrockgruppe von Miles Davis gespielt. Danach beschritt er in Zusammenarbeit mit ECM verstärkt innovative Solo-Pfade. 1973 absolvierte er eine Europatour, bei der er seine freien Improvisationen aufführte, die die Zuhörer*innen begeisterten. Das dabei entstandene Album „Solo-Concerts Bremen/Lausanne“ wurde von der Kritik gefeiert.

Ein Flügel, falsch und verstimmt

Nun also Köln. Jarrett hatte sich für seinen Auftritt am 24. Januar einen Konzertflügel „Bösendorfer Imperial“ gewünscht, der Brandes von der Oper auch zugesagt wurde. Der Künstler hatte tags zuvor in der Schweiz ein Konzert gespielt. Als der von Rückenschmerzen geplagte Jarrett zusammen mit Eicher am Nachmittag nach einer strapaziösen Autofahrt ausgelaugt in der Stadt ankam, ging es zum Soundcheck. Im spärlich beleuchteten Saal stand ein Instrument, das zwar den Namen Bösendorfer trug, aber wenig mit der Pracht des gut 550 Kilo schweren Imperials gemein hatte. Nachdem Jarrett und Eicher einige Töne gespielt hatten, schockierte Eicher Brandes mit der Aussage: „Wenn Du kein anderes Klavier bekommst, kann Keith heute Abend nicht spielen.“ Das Opernpersonal hatte den imposanten Flügel, der versteckt hinter Brandschutztüren stand, nicht gefunden und anstatt dessen diesen kleineren Flügel auf der Bühne platziert. Bei diesem verstimmten kleinen Bösendorfer waren zudem angeblich einige Tasten und die Pedale nicht voll funktionsfähig.

Jetzt wurde es hektisch. Das Konzert war ausverkauft und Brandes befürchtete, dass eine Absage Tumulte auslösen könnte. Sie suchte bei Klaviervermietern in ganz Nordrhein-Westfalen kurz vor dem Wochenende nach adäquatem Ersatz. Fehlanzeige. In der Volkshochschule wurde sie dann doch fündig, der Transport auf eigene Faust in die Oper organisiert. Der inzwischen eingetroffene Klavierstimmer riet Brandes aber, wenn sie sich nicht finanziell ruinieren wolle, von einer Beförderung des sehr teuren Klaviers über regennasse Straßen in die Oper ab. Und dann sah sie, dass Jarrett in einem Auto losfahren wollte. Das Konzert drohte endgültig zu scheitern. Sie raste intuitiv los, öffnete die Beifahrertür und sagte in nicht ganz stubenreinem Englisch: „Keith, if you don’t play tonight, I gonna be truly fucked, and I know you gonna be truly fucked, too.“ Jarrett ließ sich erweichen und ging das Wagnis ein: „It’s okay. I’ll play. But never forget: Just for you.“

Konsensplatte mit Langzeitwirkung

Der Klavierstimmer hatte zwischenzeitlich den kleinen Flügel spielfertig gemacht, die Aufnahme wurde gestartet und eine unvergessliche Nacht begann. Jarrett spielte über eine Stunde lang in freier Improvisation. Harmonisch, manchmal gospelartig, mit schwebenden Passagen, fast schon poppig, nicht unbedingt jazzig. Die Kritik überschlug sich vor Lob. Der Tonträger „The Köln Concert“ fand mit seinem markanten weißen Albumcover Einzug in unzählige Haushalte. Der auf der Plattenhülle abgebildete, entrückt wirkende Jarrett wurde damals hingegen nicht während dieses Konzerts in Köln fotografiert. Die Platte durchbrach Jazz-Mauern und wurde zu einer Art Konsensplatte mit Langzeitwirkung. Sie wurde als Filmmusik verwendet, musste aber auch Spott ertragen. So beschrieb der Satiriker Wiglaf Droste in seinem Werk „Späte Rache oder The Köln Concert“ eindringlich seine Erlebnisse mit solcher Art Musik: „Schwarze Tasten, weiße Tasten / Töne, die das Herz belasten / Hände, die nicht ruh‘n noch rasten / hasten über Tasten, tasten / Junge Menschen wurden greise / wenn Keith Jarrett klimperte / auf dem Flokati litt ganz leise / wer vorher fröhlich pimperte.“

Jarrett selbst fällte ein harsches Urteil für sein berühmtestes Konzert. Man solle „die Platte einstampfen, das Ding war ein Fluch“, äußerte er in einem Interview. Millionen Hörer*innen sahen das anders und nun erfährt auch die unerschrockene und temperamentvolle Vera Brandes die verdiente Würdigung für ihren damaligen Einsatz. Der Film „Köln 75“ widmet sich den damaligen Geschehnissen und soll auf der kommenden Berlinale im Februar 2025 Weltpremiere feiern.

 

Bild mit Text: Förderverein „Freunde von ByteFM“

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