Mike Hadreas alias Perfume Genius
Mike Hadreas sitzt vor einem Haufen Schokoriegeln. Er dürfe sie nicht essen – er ernähre sich ohnehin schon viel zu ungesund, sagt der US-amerikanische Musiker, der hinter dem Künstlernamen Perfume Genius steckt, und nippt an einer Dose Kirsch-Cola. Seine Affinität zu dem koffeinhaltigen Zuckerzeug ist fast schon sprichwörtlich. Der Sänger und Songschreiber, der dieser Tage sein viertes Album „No Shape“ veröffentlicht, war bisher für zutiefst intimen Kammer-Pop bekannt. Er hat seit seiner ersten Platte „Learning“ aus dem Jahr 2010 die Gewalterfahrungen, die er erlebt hat, in seiner Musik verarbeitet: Ausgrenzung als schwuler Teenager in einem Vorort von Seattle, sexuelle Übergriffe, Drogensucht. Heute ist Mike Hadreas 35 und es erscheint sein viertes Album, auf dem er seinen Sound weiterentwickelt hat: Er gestaltet ihn opulenter, abwechslungsreicher und mutiger.
Dein neues Album klingt abwechslungsreicher. Deine Stimme wird nun von mehr und unterschiedlicheren Sounds begleitet. Verstehst Du Deine Stimme trotzdem noch als Dein Hauptinstrument?
Ich glaube schon, eigentlich sogar vor allem bei diesem Album. Ich fühlte mich als Klavierspieler etwas eingeschränkt. Ich wollte, dass der Sound im Studio mit meiner Stimme auf ganz unterschiedliche Weise entsteht, sie zum Beispiel ganz hoch- oder runterpitchen. Ich konnte so die Songs füllen, ohne dafür wissen zu müssen, wie man zum Beispiel ein Saxophon spielt. Zum Beispiel im Song „Die 4 You“ – da singe ich wie eine Trompete. Ich mag es, dass man nicht wirklich sagen kann, ob es ein Instrument oder eine Gesangsstimme ist.
Für „No Shape“ hast Du mit dem Produzenten Blake Mills zusammengearbeitet. Kannst Du beschreiben, was seine Rolle beim Produzieren des Albums war?
Er ist wirklich talentiert und es ist sehr gut, so jemanden an seiner Seite zu haben, wenn man Musik macht (lacht). Als ich ihm die Demos geschickt habe, hat er mir vier Seiten mit Notizen zurückgeschickt. Viele seiner Anmerkungen fassten exakt das auf, was ich sagen wollte, manche waren hingegen total überraschend. Einige meiner Songs waren fast traditionelle amerikanische Pop-Songs. Aber ich wollte nicht, dass sie zu traditionell behandelt werden. Ich wollte, dass sie ganz anders, unaufgeräumt oder durcheinander klingen („messed up“). Blake benutzt zum Beispiel eine Gitarre und Du hast direkt dieses vertraute Gefühl, aber bei ihm kann sie ganz anders klingen, sehr nah oder auf seltsame Weise weit weg.
Was meinst Du genau mit „messed up“?
(Lacht) Manche Songs sind zum Beispiel klanglich eher up-beat, aber die Lyrics sind subversiv und haben einen dunkleren Ton. Oder andersherum. Ich wollte immer etwas Dissonanz haben. Das war mir wichtig, und spiegelt sich im Thema des Albums: Man möchte glücklich sein, aber schafft es nicht. Die Instrumentierung sollte dieses Gefühl spiegeln.
Grundsätzlich klingt Deine neue Platte aufgeschlossener. Würdest Du dem zustimmen und kannst Du erklären, warum?
Ja. Aber ich musste mich dazu überreden. Sich außerhalb der eigenen Komfortzone zu begeben, ist meistens besser. Für mich persönlich ist es schwieriger, Songs mit mehr Wärme und Freude zu schreiben. Für mich ist es wesentlich einfacher ist, etwas Verstörendes und Schockierendes zu machen – und davon bin ich auch ein großer Freund – aber es liegt eine Schwierigkeit darin, etwas Warmes, Ekstatisches und Fröhliches zu machen, ohne belanglos zu klingen, weil es so schön klingt, dass man es noch nicht mal wahrnimmt. „No Shape“ war in dem Sinne eine Herausforderung für mich.
Du hast in einem Interview mal gesagt, dass Du Dich beim Schreiben von Musik fragst, was Du selbst gerne gehört hättest, als Du ein Teenager warst. Warum richtet sich Deine Musik speziell an jüngere Menschen?
Das kommt daher, weil Musik für mich als Kind und Jugendlicher sehr wichtig war. Viele meiner Geheimnisse konnte ich niemandem erzählen, aber ich hörte, wie andere darüber sangen. Wenn man als Außenseiter aufwächst, kann man sich sehr einsam fühlen. Geschichten von anderen Outsidern zu hören, selbst wenn es nur in Musik oder Filmen ist, kann dann sehr wichtig sein. Aber ich hatte nicht immer Menschen, bei denen ich dachte, dass ich mich komplett mit ihnen identifizieren kann, die genau die gleichen Erfahrungen machen oder die gleichen Wege gehen wie ich, wenn ich erstmal in der Stadt wohnen würde (lacht). Also fühle ich sowas wie eine Verantwortung, sehr offen mit meiner Sexualität und meinen Erfahrungen umzugehen. Einfach weil ich glaube, dass es mir geholfen hätte, wenn das jemand gemacht hätte, als ich jung war.
Wer hat dir konkret auf diese Weise geholfen?
Ein Album, das wirklich etwas bewirkt hat, war „Exile In Guyville“ von Liz Phair. Ich habe es bekommen, als ich 13 war. Das Album hat meine Wahrnehmung von dem, was Musik ist, nachhaltig verändert: Einfach nur ihr zuzuhören, wie sie ohne Scham über Sex singt. Das war ein Thema, das mir damals sehr peinlich war. Ich wusste nicht, dass man über solche Sachen reden konnte und erst recht nicht, dass man darüber singen kann.
Vor ein paar Jahren wurde ein Promo-Video von Dir von YouTube gelöscht, weil es Dich mit einem anderen Mann zeigte. Heute gibt es eine neue Regierung in den USA, die die LGBT-Community angreift und Geld für soziale Projekte kürzt. Wie reagierst Du darauf?
Es ist wirklich beängstigend und ich bin nicht optimistisch. Ich glaube, dass es nur schlimmer wird. Ich lebe zurzeit in einer kleineren Stadt, aber wenn ich etwas Zeit habe, werde ich wieder nach Los Angeles ziehen. Wenn Du in einer Kleinstadt lebst und Leute Dich diskriminieren, hat Dich bisher wenigstens noch das Gesetz geschützt. Ich glaube, dass das nun nicht mehr stimmt. Jedenfalls nicht für People of Color, aber auch nicht für mich. Ich glaube aber grundsätzlich, dass es Menschen gibt, die auf meiner Seite sind und für mich kämpfen würden. Denn ein großer Teil von Amerika ist momentan nicht auf meiner Seite.
Es gibt aber auch viele eindrucksvolle, ermutigende Kommentare unter Deinen Videos, zum Beispiel: „Perfume Genius hat mir beigebracht, was es bedeutet, ein Mann zu sein.“ Speziell in Bezug auf diesen Kommentar, welche Rolle spielt Männlichkeit oder Weiblichkeit in Deiner Musik?
Seitdem ich fünf oder sechs Jahre alt war, wurde ich für das, was andere für meine „femininen Eigenschaften“ nennen, terrorisiert. Erstens ist es komisch, bestimmten Dingen männliche oder weibliche Zuschreibungen zu geben. Und zweitens habe ich gelernt, meine feminine Seite nun als Stärke zu verstehen. Zum Teil auch, weil ich mich seit meiner Kindheit auch kaum verändert habe. Obwohl Leute versucht haben, mich zu verändern (lacht). Grundsätzlich denke ich, dass Misogynie das zentrale Problem ist und Homophobie daraus resultiert. Früher dachte ich immer, dass ich mich mit einer Seite, meiner weiblichen oder meiner männlichen, mehr identifizieren müsste. Aber nun ist mir das egal. Heute wache ich auf und ziehe mich an wie ein Bauarbeiter. Oder ich lege Make-up und Lippenstift auf. Oder beides gleichzeitig. Und das ist okay.
Es ist erstaunlich, dass Du so offen über persönliche Themen redest. Oft wollen KünstlerInnen ihr persönliches Leben von ihrer Kunst trennen.
In letzter Zeit macht es mir etwas Angst, weil mich meine Offenheit sehr angreifbar macht. Aber vielleicht habe ich all das schon oft genug durchgemacht und bin nicht daran gestorben. Ganz im Gegenteil, ich habe eine Karriere daraus gemacht. Das könnte für andere hilfreich sein – und ich war lange niemandem eine Hilfe. Daher macht mir das heute nichts aus.
Wenn man Dein Debütalbum mit „No Shape“ vergleicht, fällt auf, dass Dein Debüt musikalisch eher auf Gesang und Klavier reduziert war und nun kann man laute, aus sich herausgehende, zum Teil überwältigende Klänge hören. Fühlst Du Dich heute auf der Bühne wohler?
Als Musiker und Performer ja, aber, wenn ich darüber nachdenke, auch als Person. Überhaupt, dass ich mich gerade so genannt habe: Musiker und Perfomer, hat was mit meinem persönlichen Selbstverständnis als Künstler zu tun. Früher hat es sich auf der Bühne angefühlt, als würde ich beobachtet werden. Heute bin ich freier und offener. Wenn ich heute auftrete, ist es eher etwas Gemeinsames, fast wie eine Gruppentherapie (lacht). Ich habe das Gefühl, ich kann heute auf der Bühne das zeigen, warum ich früher selbst auf Shows gegangen bin: Eine Person sehen, die sich komplett im Moment verliert, sich komplett mit dem verbindet, was den Song ursprünglich inspiriert hat. Ich konnte das vor einigen Jahren definitiv noch nicht.
Wie Du sagst: Du kannst jetzt selbstbewusst aus Deiner Komfortzone heraustreten.
Ich habe einfach sehr lange Sachen gemacht, die unbequem waren. Daher gehe ich jetzt einfach da raus. Auch wenn die Angst niemals ganz weg geht. Aber ich mache Dinge nun trotzdem, auch wenn ich diese Stimmen in meinem Kopf höre. Und das ist auf schräge Art aufregend, es fühlt sich sehr rebellisch an. Auch wenn sich die Rebellion nur gegen mich selbst richtet. Das ist ein Gefühl, das ich nicht jeden Tag habe. Aber ich nutze jede Möglichkeit, um es zu bekommen.
Interview: Diviam Hoffmann
Übersetzung: Philipp Steffens
Am Donnerstag hört Ihr im ByteFM Magazin Ausschnitte aus dem Gespräch mit Perfume Genius und Musik aus dem neuen Album „No Shape“.