Lingua Ignota – „Sinner Get Ready“ (Rezension)

Von Marius Magaard, 10. August 2021

Bild des Albumcovers von „Sinner Get Ready“ von Lingua Ignota

Lingua Ignota – „Sinner Get Ready“ (Sargent House)

9,0

Die Musik von Kristin Hayter macht keinen Spaß. Sie ist so ernst, wie Musik nur sein kann. Sollte man die US-Künstlerin, die seit fünf Jahren unter dem Namen Lingua Ignota auftritt, mit einem einzigen Wort beschreiben, dann wäre es wahrscheinlich „kompromisslos“. Und das war sie vom Anfang ihrer Karriere an. Als Master-Arbeit an der Kunsthochschule gab sie ein 10.000 Seiten umfassendes autobiografisches Manuskript über Misogynie, Missbrauch und Magersucht ab. Warum 10.000 Seiten? Druckt man dieses Manuskript aus, dann wiegt es genauso viel wie Hayter selbst. Lingua Ignota geht genau dahin, wo es wehtut.

Dementsprechend klingt ihre Musik. Die beiden bisherigen Lingua-Ignota-LPs, „All Bitches Die“ aus dem Jahr 2017 und „Caligula“ aus dem Jahr 2019, waren eine schmerzhafte Mischung aus den extremsten Stilarten der Pop-Musik: Erdrückender Harsh-Noise, kreischender Black-Metal, zerberstender Industrial. Im harten Kontrast zu anderen extremen Lärm-Künstler*innen wie Pharmakon oder Merzbow verwob die klassisch ausgebildete Pianistin und Sängerin Hayter diese abgrundtiefe Musik mit barocken Chorälen und Streicherklängen. In dieser Mischung aus Schönheit und Zerstörung lag eine unfassbare Kraft – die natürlich auch ihren Hörer*innen viel Kraft abverlangte. „Caligula“ als „nicht leicht zugänglich“ zu beschreiben, ist eine heftige Untertreibung. Diese kompromisslose Kunst verlangt vom Publikum absolute Hingabe. Erst dann enthüllt sie ihre Kraft.

Martialischer Folk

Noch nie machte Hayter den Zugang zu dieser Kraft leichter als auf ihrem neuesten Album, „Sinner Get Ready“. Ihre dritte LP ist ein kleines Wunder: Es ist ein Folk-Album. Lingua Ignota tauscht den Harsh-Noise gegen Piano-Balladen, den Black-Metal gegen Folk-Instrumentierung wie Geige, Banjo oder Akustik-Gitarre. Die wunderbare und furchteinflößende Welt der Kristin Hayter klingt zum ersten Mal ein wenig einladend.

Doch sei Dir einer Sache bewusst, liebe*r Sünder*in: Diese Musik hat nichts an ihrer Intensität verloren. „The Order Of Spiritual Virgins“ eröffnet das Album mit Schönheit, mit sanften Klavierakkorden und lamentierenden Gesangsharmonien. Doch es vergehen keine vier Minuten, bis Hayter mit martialischer Härte auf die tiefsten Tasten ihres Pianos eindrischt. In „Man Is Like A Spring Flower“ bewegen sich Banjo und Geige in einer nicht enden wollenden Spirale – das Ergebnis fühlt sich an wie sieben Minuten freier Fall. „Many Hands“ ist technisch gesehen ein Akustikgitarren-Song, nur wird das Instrument mit der Wucht eines Hammerschlags bedient – und dabei im Rhythmus verstimmt. Hayter hat dem Noise nicht abgeschworen, nur wird er nun mit akustischen Instrumenten produziert.

Kompromisslos real

Das mächtigste Instrument auf „Sinner Get Ready“ ist aber die Stimme. Hayter demonstriert auf diesem Album eine fast schon schwindelerregende Kontrolle über ihr Organ. Das zeigen zwei Beispiele. Da ist einmal „Pennsylvania Furnace“, die minimal arrangierte erste Single. Hayter singt Zeilen wie „All that I’ve learned is that everything burns” mit entwaffnender Zärtlichkeit. Inmitten von folkloristischen Höllensongs gewährt “Pennsylvania Furnace“ für fünf Minuten Ruhe. Es ist das Auge des Sturms.

Und dann ist da der zweite Song, „I Who Bend The Tall Grass“, in dem sie über sakralen Orgel-Klängen den Allmächtigen anschreit. Nicht aus religiöser Verzweiflung, sondern mit einer klaren Absicht: Der Mensch, der sie missbraucht hat, muss sterben. „Use any of your heavenly means / Your golden scythe, Your holy sword”, beginnt sie. Was erst wie ein Stoßgebet anmutet entpuppt sich nicht als Hilferuf, sondern als Befehl. „I don’t give a fuck, just kill him / You have to, I’M NOT ASKING”. Wenn Hayter schreit, wirkt das nicht wie ein musikalisches Stilmittel, nicht wie eine Performance. Dann beginnt das Knochenmark zu gefrieren und die Erde zu beben. In diesen Momenten zeigt Lingua Ignota, wie leer die Musik von all den „düsteren“ Metal-Boys eigentlich ist. Die Hölle, die Kristin Hayter besingt, macht keinen Spaß. Sie ist kompromisslos real.

Veröffentlichung: 6. August 2021
Label: Sargent House

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Diskussionen

1 Kommentar
  1. posted by
    Holger Lisy
    Mrz 18, 2023 Reply

    Ich krieg´schon beim Lesen wieder Gänsehaut…

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