Moor Mother – „Black Encyclopedia Of The Air“ (Rezension)

Bild des Albumcovers von „Black Encyclopedia Of The Air“ von Moor Mother.

Moor Mother – „Black Encyclopedia Of The Air“ (ANTI-)

8,2

Es gibt Bands und Acts, die brauchen für eine Neuerfindung ein ganzes Jahrzehnt. Bands, die gefühlte Ewigkeiten an Stagnation benötigen, um ihre Komfortzone zu verlassen. Selbst erfahrene Neuerfinder wie Radiohead brauchten vier Jahre, um von „OK Computer“ zu „Kid A“ zu kommen. Es braucht nun einmal Zeit und Energie, um das Gelernte zu verlernen.

Und dann gibt es Camae Ayewa. Die Künstlerin und Poetin aus dem US-Bundesstaat Maryland scheint das Thema „Komfortzone“ komplett abzulehnen. Das merkt man zuerst an ihrer unruhigen, oftmals bewusst unangenehmen Musik. Doch vor allem zeigt sich das an der schwindelerregenden Bandbreite, die Ayewa unter ihrem Künstlerinnennamen Moor Mother abdeckt. Allein ihre Releases im Jahr 2020 sprechen Bände. Im Zeitraum eines einzigen Jahren veröffentlichte sie: ein Album als Teil des Free-Jazz-Kollektivs Irreversible Entanglements. Eine Handgranaten-artige Noise-Punk-LP mit ihrem Duo Moor Jewelry. Eine abstrakte Underground-HipHop-Platte mit dem Rapper Billy Woods. Ein Soloalbum, basierend auf einer selbstgeschriebenen und -performten Stage-Revue. Eine Live-Noise-Kooperation mit der Avantgarde-Jazz-Komponistin Nicole Mitchell. In diesem Jahr setzt sich dieser Trend fort: Ayewa arbeitete in den vergangenen Monaten bereits mit so unterschiedlichen Acts wie Sons Of Kemet und The Bug zusammen. Moor Mother produziert, rappt, singt, schreit und schrammelt. Und ihr Geist ist immer in Bewegung.

All diese extrem unterschiedlichen Projekte waren Kooperationen. Doch wie sieht ein Soloalbum von solch einer abenteuerlichen Künstlerin aus? Ihre neue vierte Solo-LP zeigt, dass diese Frage nicht so leicht zu beantworten ist. „Black Encyclopedia Of The Air“ ist das Werk einer Musikerin, die nicht nur in keine Schublade passt – die das Konzept „Schublade“ seit dem Beginn ihrer Karriere transzendiert.

Jenseits aller Komfortzonen

Wie beschreibt man so ein Album? Vielleicht so, wie der Autor Mark Z. Danielewski die unendlichen Korridore des titelgebenden Hauses seines Romans „House Of Leaves“ beschreibt. Nämlich mit einer Auflistung von all den Sachen, die es nicht ist, oder nicht hat. Im Falle von Danielewskis „Haus“ sind das: keine Toilette, kein Holz, keine Fenster, keine Lampen, keine Steckdosen, etc. Moor Mother rappt auf „Black Encyclopedia Of The Air“, genau wie Feature-Gäste wie zum Beispiel Elucid oder Pink Siifu, aber dennoch ist es kein HipHop-Album. Ayewa spricht ihre Zeilen mit der Gravitas einer apokalyptischen Poetin, mit mehr Fokus auf den Worten als auf dem Flow. Der Begriff „Spoken-Word“ passt aber ebenfalls nicht, dafür ist zu viel Musikalität in ihrer Stimme. Die Akkorde und Flöten muten wie Jazz an, doch es handelt sich auch nicht um ein Jazz-Album. Die Drones, Störgeräusche und Klacker-Sounds erinnern an abstrakte Noise-Musik, an Musique concrète, doch dafür ist die LP nicht verkopft genug.

Was bleibt übrig? Vielleicht sollte man weniger beschreiben, was diese Musik ausmacht, sondern eher, was diese Musik macht. Sie wühlt auf, wie im Sägezahn-Synthesizer-Albtraum „Zami“, der die Autobiografie der afroamerikanischen Feministin Audre Lorde zitiert. Sie beruhigt, wie in den erstaunlich angenehmen Instrumentals von „Mangrove“ oder „Iso Fonk“. Und sie inspiriert, durch Ayewas fantastische Texte. Die Worte dieser Poetin sind gleichermaßen spirituell und politisch – in wenigen Sätzen kreiert sie ganze Universen. „Gather in a circle, my purpose / My collective work / My responsibility to the earth, to the hurt“, heißt es in „Shekere“. Was ist „Black Encyclopedia Of The Air“? Ein Album, das nur Moor Mother erschaffen konnte, jenseits aller Komfortzonen.

Veröffentlichung: 17. September 2021
Label: ANTI-

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