Radiohead – „Kid A“ (Parlophone)
Die langjährige Karriere einer Band ist, auf ihre Essenz heruntergebrochen, eine lange Kette von Entscheidungen. Manche Gruppen treffen nach 100 richtigen eine einzige falsche – und landen direkt im künstlerischen, kommerziellen oder kompletten Ruin. Der Druck ist also groß.
This is really happening
Eine junge Band landet zu Beginn der 90er-Jahre einen sich perfekt in den nihilistischen Grunge-Zeitgeist einfügenden Hit. Einen schamlos misanthropischen Song über das Außenseiterdasein. Das war eine richtige Entscheidung, die ihr eine solide kommerzielle Basis sichert. Es folgt ein zweites Album, das gleichzeitig den Rock-Sound ausdifferenziert und trotzdem ein paar stadiontaugliche Hits liefert. Auch das war eine richtige Entscheidung. Dann kommt das dritte Album, eine kopflastige, abenteuerliche LP über menschliche Entfremdung, die die Band zu Lieblingen der Fachpresse macht. Ihre Musik ist seltsam, von Jazz und Electronica beeinflusst, aber dennoch nicht zu weit vom Gitarrenrock entfernt, der ihnen ein liebendes Publikum bescherte. Auch das war eine richtige Entscheidung.
Dieser Band, Radiohead ist ihr Name, stand zu diesem Zeitpunkt die Welt offen. Es ist das Jahr 1999. Das letzte Album der Briten, „OK Computer“, wird als eine der wichtigsten Platten ihrer Zeit gehandelt. Die Band scheint zu spüren, dass ihre nächste Entscheidung immens wichtig ist. Sie hätten zu ihren Wurzeln zurückkehren, sich zurücklehnen können. „OK Computer“ und die Vorgänger „Pablo Honey“ und „The Bends“ boten genug Material, um als Rock-Institution noch lange Zeit Stadien füllen zu können.
Doch Radiohead trafen eine andere Entscheidung: Sie brachen alles herunter. Von den Instrumenten bis zur Stimme. Sie pumpten sich den Rock aus der Blutbahn, als wäre er Gift. Und bauten sich komplett neu auf. Diese alles entscheidende Wendung in ihrer Karriere, das Album „Kid A“, wird heute, am 2. Oktober 2020, 20 Jahre alt.
You can try the best you can
Um das Konstrukt Rock-Song endgültig zu zerstören, bezogen sich Radiohead auf Musik, die selber Strukturen sprengte. Der nach seiner eigenen Pfeife tanzende Krautrock von Can, Neu oder Kraftwerk. Die Zeit anhaltende Jazz-Fusion von Miles Davis’ „In A Silent Way“. Der schwerelose Anti-Rock der späten Talk Talk. Die blubbernde, knarzende, abstrakte Electronica, die in den 90er-Jahren auf dem Label Warp Records von Acts wie Aphex Twin, Autechre und Squarepusher geschmiedet wurde. Die alle Regeln von Ästhetik und Form über Bord werfenden Kompositionen von John Cage oder Krzysztof Penderecki.
Doch die Summe dieser Teile ist einzigartig. Der Opener „Everything In It’s Right Place“ experimentiert mit Drumcomputer, Jazz-Akkorden und 5/4-Takt, doch das Ergebnis transzendiert diese Formparameter. Genau wie das Instrumental scheint sich die vom Computer zerhackte Stimme von Sänger Thom Yorke in alle Richtungen gleichzeitig auszudehnen. Erst ist sie unmittelbar am Ohr, dann kilometerweit entfernt. Es folgt der Titeltrack, der auch zwei Jahrzehnte später immer noch wie nicht von dieser Welt klingt: Atonale Klaviertöne klimpern im Äther. Drummer Philip Selway verwandelt ein Gefühl von Isolation in einen Tanz. Eine körperlose Stimme singt von aufgespießten Köpfen.
Radiohead machten dabei keine halben Sachen. Gitarrist und Soundarchitekt Jonny Greenwood und sein Bass spielender Bruder Colin verbrachten lange Zeit mit ihren neuen Maschinen, mit modularen Synthesizern, Sequencern und der mit Tasten versehenden Theremin-Variation Ondes Martenot. Ein Großteil der Software wurde von Jonny Greenwood persönlich programmiert.
I think you’re crazy, maybe
Mit dieser abstrakten Musik muteten Radiohead ihrem „Creep“-Publikum einiges zu. Die von klassischen Rock-Instrumenten gespielten Songs sind auch nicht leichter verdaulich. Das von einem fies verzerrten Bass-Riff angetriebene „The National Anthem“ endet in einer an John Coltrane erinnernden Free-Jazz-Kakofonie. Die herzzerreißende Folk-Ballade „How To Disappear Completely“ wird von dissonanten Penderecki-Streichern zerschnitten.
Laut eigener Aussage hatten Radiohead Angst davor, selbstgefälligen „Art-Rock-Nonsens“ zu machen. Bei all dem verkopften Experimentieren hat dieses Album tatsächlich nichts selbstgefälliges. Unter der kalten, entfremdeten Hülle von „Kid A“ schlägt ein kräftiges Herz. Der Electronica-Albtraum „Idioteque“ macht alltägliche, überfordernde Angst greifbar. „We’re not scaremongering / This is really happening”, singt Yorke mit stetig steigender Intensität. Live bei Konzerten singen Tausende mit. Es war die richtige Entscheidung.
Heutzutage ist es ein Klischee: Die Gitarrenband, die sich beim zweiten, dritten oder vierten Album in eine Electronica-Band verwandelt. Was für Radiohead eine radikale Entscheidung war, ist mittlerweile ein fast schon vorgegebener Karrierepfad. „I hear that you and your band have sold your guitars and bought turntables”, stichelte LCD-Soundsystem-Sänger James Murphy nur zwei Jahre nach „Kid A”. Da merkt man, wie viel Gewicht auf dieser Entscheidung dieser Band lag. Und bis heute immer noch liegt.
Veröffentlichung: 2. Oktober 2020
Label: Parlophone
Diskussionen
1 KommentareHannebambel
Jul 9, 2021Pupsi Pups