All diese Gewalt – „Alles ist nur Übergang“ (Album der Woche)

Von ByteFM Redaktion, 13. November 2023

Cover des Albums „Alles ist nur Übergang“ von All diese Gewalt, das unser ByteFM Album der Woche ist.

All diese Gewalt – „Alles ist nur Übergang“ (Glitterhouse Records)

Der Übergang zwischen gefühlter und tatsächlicher Wahrheit ist fließend. Immer wieder in der Geschichte unserer Spezies gibt es Theorien, die zwar nicht stimmen und uns dennoch nicht loslassen. Wie zum Beispiel das berühmte „21-Gramm-Experiment“, das Duncan MacDougall 1907 durchführte. Der US-Wissenschaftler hatte es sich zum Ziel gemacht, das Gewicht der Seele zu bestimmen. Dazu wurde das Körpergewicht todkranker Patienten vor und unmittelbar nach dem Zeitpunkt ihres Ablebens gemessen. Bei einem Menschen wurde laut Aufzeichnungen tatsächlich ein Unterschied von einer dreiviertel Unze festgestellt, sprich: 21 Gramm.

Dass dieses Ergebnis nur auf einen der sechs „Teilnehmenden“ zutraf, nie wieder von anderen Wissenschaftler*innen reproduziert wurde und auch von MacDougall selbst als kein Beweis für irgendetwas vorgelegt wurde, hielt den Volksmund nicht davon ab, von dieser Zahl bodenlos fasziniert zu sein. In zahlreichen Filmen, Serien und Songs wird sie thematisiert. Von oscarprämierten Autoren-Filmern wie Alejandro González Iñárritu bis zu Popstars wie Travis Scott („She got trippy off Xans, lost twenty-one grams“, rappte er 2018 auf „Astroworld“). Und auch auf „Alles ist nur Übergang“, dem vierten Album von All diese Gewalt, hat diese magische Zahl eine tragende Rolle.

Existenzielles Gewicht

„Seele wiegt 21 Gramm / Leg‘ Dir was ich hab in Deine ausgestreckte Hand“, singt Max Rieger im nach diesem modernen Mythos benannten Song. Wie der Titel seines neuesten Solowerks unmissverständlich verrät, handelt es sich hier um ein Album über Übergänge. Der zwischen Leben und Tod liegt bei der Seelengewichtsmetapher auf der Hand. Der zwischen zwei Menschen auch, wie besagte zweite Zeile zeigt. Doch auch das Songwriting, das Musikmachen an sich scheint für den Songwriter, Sänger, Gitarristen und Produzenten ein ewiger Übergang. „Ich nähere mich an / Wär‘ so gerne näher dran / Aber ich komm nicht näher ran“, singt er im abschließenden Titeltrack. „Man kommt ohnehin nie an ein Ende, an dem man sich selbst und der Sache gerecht wird“, sagt Rieger selbst, „darum ist es legitim, Unvollständiges als vollständig zu erklären und es loszulassen.“

Das wirkt alles klar und verständlich, auch beim Hören dieses Albums. Gerade im Vergleich zu Die Nerven, das Post-Punk- und Noise-Rock-Trio, das Rieger bekannt machte. Denn da handelt es sich um eine waschechte Band. Gitarre, Bass, Schlagzeug, allesamt demokratisch gleichauf gewichtet. Zu dritt sind sie für einige der spannendsten deutschsprachigen Gitarrenalben der vergangenen Jahre verantwortlich. Platten wie „Fun“, „Fake“ und das 2022 veröffentlichte „schwarze Album“ sind unmittelbar stringente Erlebnisse, aus einem Guss nach vorne preschend. Im Kontrast dazu sind die LPs von All diese Gewalt deutlich ungreifbarer. In seinem Solowerk kann Rieger die Früchte seiner mittlerweile recht beeindruckenden Produktionskarriere ernten (er arbeitete unter anderem für Casper, Mia Morgan, Stella Sommer und aktuell an dem neuesten Werk der US-Lärmlegenden Swans). Hemmungslos Klänge übereinanderschichten, ohne Einschränkungen durch ein klassisches Bandformat. Hier verschwimmen die Grenzen zwischen Kitsch und Kunst, zwischen Song und Stück.

Himmel und Erde

Und genau hier macht Rieger musikalisch mit „Alles ist nur Übergang“ weiter: Mit zehn Klangskulpturen. Das Album beginnt mit „Ich bin das Licht“, einem mit zart gezupften Gitarren beginnendes und in einer gleißend hellen Wall Of Sound endendes Stück Textur-Musik. Ein wichtiges Element sind diesmal von alten Klassik-Vinyls gesampelte und entfremdete Streicher- und Chor-Fragmente. In „Zu Staub werden“ verschwimmt der Chor mit Post-Rock-Gitarrenwellen. In „21 Gramm“ treffen diese körperlosen Stimmen auf einen markerschütternden 808-Bass. Die Noise-Rock-Hölle von „Ab Ab Ab“ mündet in zarte Arpeggios und Vogelgezwitscher. Hier gibt es nicht nur weiche Übergänge, sondern auch harte Kontraste.

Die vom Bass geerdete Musik von „21 Gramm“ wird später mit „100.000 Tonnen“ kontrastiert, einer formlose Ambient-Noise-Wolke. Rein wissenschaftlich mag das eingangs beschriebene Gewicht nichts bedeuten, doch diese Musik macht die existenzielle Krise dahinter spürbar. Spätestens hier möchte man Max Rieger gerne widersprechen. Bei all den dispersen Elementen wirkt „Alles ist nur Übergang“ so gar nicht wie eine Annäherung an das Unbekannte. Sondern wie eine konsequente Weiterentwicklung der Rieger‘schen Soundwelten.

Veröffentlichung: 10. November 2023
Label: Glitterhouse Records

Bild mit Text: Förderverein „Freunde von ByteFM“

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Diskussionen

1 Kommentar
  1. posted by
    Nurija
    Nov 13, 2023 Reply

    Hallo! Super, dass Sie deutsche Bands ans Licht bringen. Es ist nämlich so, dass manche Leute in der Welt Freude sowohl an der deutschen Sprache als auch an Musik finden. Deshalb würde ich gerne Jahreslisten mit den besten deutschsprachigen Alben lesen können. Aus allen Musikrichtungen. Die DDR inklusive. Sonst erfährt man im Ausland meist nur durch Zufall von interessanten deutschsprachigen Bands. Das heißt, viele lernt man gar nicht kennen. Ich weiß nicht, warum, aber ich habe im Internet so was noch nicht gefunden. Dabei gibt es Listen mit international bekannten, meist englischsprachigen, Bands in Hülle und Fülle. In Bezug auf gute lokale Bands bestehen also Informationslücken.

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