Galliano – „Halfway Somewhere“ (Brownswood Recordings)
„I’m losing my edge“, sang James Murphy 2002 auf der Debütsingle seiner Band LCD Soundsystem, bei der es sich um eine in Musik verwandelte Existenzkrise handelt: Murphy spielt hier den alternden Musikchecker, der bei allen coolen Momenten der Pop-Geschichte dabei war. Bei der ersten Can-Show in Köln, bei den ersten Proben von Suicide. Der als erster den „Rock-Kids“ Daft Punk vorgespielt hat. Und der dennoch von den jungen Leuten überholt wird. Fast schon panisch listet er zum Finale des Songs hippe Bands auf, doch es ist egal. Er lebt in der Vergangenheit – und die Zukunft hat keinen Platz für ihn.
In der Mitte von „Halfway Somewhere“, dem Comeback-Album der britischen Acid-Jazz-Pioniere Galliano, gibt in gewisser Hinsicht einen ganz ähnlichen Song: „Circles Going Round The Sun“. Auch dieser Song ist eine von der Vergangenheit besessene Kombination aus Sprechgesang und Dance-Beat. Fast die Hälfte des Liedes ist reines Namedropping: Sänger und Texter Rob Gallagher listet einen Haufen Künstler*innen auf, die ihn beeinflusst haben. Radio-Legende und UK-Jazz-Pate Gilles Peterson, der Gallianos erste Single auf seinem stilprägenden Label herausbrachte. Musiker*innen wie James Brown, Jah Wobble oder Arthur Russell, die ihnen den Weg ebneten. Sogar James Murphy wird erwähnt: „Last time I went to New York / I lost my edge to James Murphy“, sprechsingt der Brite.
Die Magie des Dancefloors
Doch im Vergleich zu „Losing My Edge“ ist „Circles Going Round The Sun“ – und das gesamte Album – keine Existenzkrise, sondern eine Party! Inmitten des Songs gibt es einen Moment, in dem Gallagher innehält. Er schaut sich um und fasst mit wenigen Worten die interkulturelle Schönheit des Dancefloors zusammen: „And we’re intertwined and connected and locked and entangled in sensations / Of here together.“ Er beschreibt einen fast schon heiligen Ort, an dem sich Menschen miteinander verbinden, miteinander verschmelzen. Und zwar nicht in der Vergangenheit, nicht in der Zukunft, sondern genau hier und jetzt.
Die Dancefloors, auf denen Galliano zum ersten Mal Menschen zusammenbrachten, gibt es wahrscheinlich mittlerweile nicht mehr: Die Band startete ihre Karriere im Londoner Underground der späten 80er-Jahre, in umfunktionierten Lagerhallen und Kellerräumen. Mit ihrer Mischung aus Funk, Jazz, House, Dub und Spoken-Word-Performance (die später Acid-Jazz genannt werden sollte) waren sie damals ihrer Zeit weit voraus. Doch seit ihrer vorläufig letzten LP „:4“ sind mittlerweile 28 Jahre ins Land gezogen. Und Gallagher ist sich seines Alters durchaus bewusst. „I’m just an eighties lyric / Floating in the snare“, singt er in „General Rubbish vs The Sportswear Mystics“. „Version of a version / Of a time that had a tear / So rare we glimpsed a future.“
Oldschool-Acid-Jazz & Experimente
Und trotzdem klingen Galliano so vital, als wäre gar keine Zeit vergangen. Mit „Dancin’ Your Own Time“ eröffnen sie das Album mit einer genussvoll groovenden Funk-Soul-Variation auf Roy Ayers’ „The Black Five“, in der sowohl Sängerin Valerie Etienne als auch die Galliano-Rhythmusgruppe mit ihren Muskeln spielen dürfen. Auch stilistisches Neuland wird betreten: „Of Peace“ ist eine Art Dub-Gospel-Hybrid, dessen Finale jede noch so dichte Wolkendecke aufreißen kann – während das wieselflinke „Jazz“ irgendwo zwischen Drum ’n’ Bass und Afrobeat flirrt. Mit „Crow Foot Hustling“ oder „Move As One“ haben Galliano auch allerlei Oldschool-Acid-Jazz-Tunes am Start – die in Kombination mit den Experimenten so frisch wirken wie noch nie.
Bei „Halfway Somewhere“ geht es der Band aber nicht nur um ihre eigene Geschichte – im Gegenteil: Galliano verneigen sich auch vor den neuen Held*innen des UK-Jazz, wie Saxofon-Star Shabaka Hutchings und Drummer Tom Skinner. Auf diesem Album gibt es keinen Anflug von altersmüder Bitterkeit oder vergifteter Nostalgie. Oder, in den Worten von Gallagher: „We are where we are / We’re not at the start but I don’t think it’s the end / Just halfway somewhere.“
Veröffentlichung: 30. August 2024
Label: Brownswood Recordings
Diskussionen
1 KommentareJörg
Sep 3, 2024Fürwahr: ein sehr schönes Album! Auch ich bin begeistert!
Was mich allerdings verunsichert, ist, dass ihr in eurem „Album der Woche“-Erklärbär-Text – wo doch ansonsten die abenteuerlichsten Traversen geschmiedet werden – NICHT darauf hinweist, dass es einen bemerkenswerten Kniefall vor den Talking Heads gibt. Ok, muss ja vielleicht nicht…