Sonic Youth – „Goo“ (DGC Records)
Da zum Jahresende traditionell wenig neue Musik veröffentlicht wird, nutzen wir die Chance, den Blick nach hinten zu richten: Statt neuer Langspieler stellen wir wegweisende Alben vor, die 2020 ein Jubiläum gefeiert haben. In dieser Woche ist es „Goo“ von Sonic Youth, das in diesem Jahr 30 Jahre alt geworden ist.
Vier dem künstlerischen Krach zugeneigte Musiker*innen rauften sich Anfang der 80er-Jahre im Untergrund-Sumpf New Yorks zusammen und gründeten eine Band. Sonic Youth war ihr Name. Ihre Musik: pechschwarzer No-Wave, performt mit verstimmten Instrumenten, zwischen deren Saiten diverse Werkzeuge geklemmt wurden. Zu ihren Inspirationen zählten die wortlosen, oft die Grenze zur Atonalität überschreitenden Gitarren-Sinfonien von Glenn Branca. Ein Mitglied der Band war sogar Teil seines Ensembles. Zehn Jahre später schaffte diese Band, allen Erwartungen zum Trotz, den Sprung in die US-amerikanischen Billboard-Charts. „Goo“, das Album, mit dem dies gelang, ist eine der größeren Anomalien des Indie-Rocks.
In dem Jahrzehnt zwischen dem Sonic-Youth-Debüt „Confusion Is Sex“ und „Goo“ ist natürlich einiges passiert. Mit jedem Album, mit jeder EP, ließen Thurston Moore, Kim Gordon, Lee Ranaldo und Steve Shelley ein bisschen mehr Pop durch ihr Lärmgewitter durchblitzen. Ihre 1987er LP „Sister“ begann mit dem zwischen Melancholie und Dissonanz oszillierenden Meisterstück „Schizophrenia“. Auf dem Nachfolger „Daydream Nation“ (1988) fanden sich gar ein paar Hymnen – von „Teenage Riot“ zu „Smells Like Teen Spirit“ ist der Weg gar nicht mehr so weit.
Atonale Anomalie
Der Erfolg von „Goo“ ist dennoch fast schockierend. Mit „Kool Thing“ landeten Sonic Youth tatsächlich einen Hit, der bis auf den siebten Platz der US-amerikanischen Alternative-Charts kletterte. Kein Wunder, bei so einem Riff. Moores und Ranaldos Gitarren spielen mit ihren Muskeln, immer und immer wieder über dasselbe, hemmungslos pumpende Motiv. Gordons kratzig charismatischer Gesang ist, dem Titel entsprechend, hochkonzentrierte Coolness. Mit seinem extrem stylischen Musikvideo fügte sich die Single sehr gut in den MTV-Zeitgeist ein. Wer den Clip im Fernsehen sah, konnte kaum ahnen, dass diese Band aus der tiefsten musikalischen Avantgarde stammte.
Trotz des unerwarteten Chart-Erfolges war „Goo“ aber keineswegs ein Sellout. Es erschien zwar auf einem Major-Label, doch musikalisch war es kompromisslos. Im Opener „Dirty Boots“ lässt sich die Band lange, lange Zeit, bis der hymnische Refrain ertönt – um ihn danach im Kreissägen-Lärm enden zu lassen. „Mary-Christ“ ist aggressiver Noise-Rock an der Grenze zum Hardcore. „Tunic (Song For Karen)“ ist eine melancholische Meditation über das tragische Leben von Karen Carpenter, die immer wieder mit fast schon stehenden Gitarrenwänden die Zeit anhält. Auch das siebenminütige Krach-Epos „Mote“ tauscht zur Mitte Harmonie gegen atonale Lärmwellen. Mit „Scooter And Jinx“ hat es sogar ein abstraktes Noise-Stück auf dieses Album geschafft.
Aller Abstraktion und Dissonanz zum Trotz: Die Melodien, die hier durchscheinen, krallen sich im Gehörgang fest. Die instrumentale Hookline von „Titanium Expose“ schießt direkt in die Blutbahn. Der Refrain von „Tunic (Song For Karen)“ – „You are never going anywhere“ – lässt eben diese gefrieren. Das erwähnte „Kool-Thing“-Riff (und seine kleine Schwester, das etwas nervige und dennoch eingängige „My Friend Goo“) vergisst man nach dem ersten Hören nie wieder. „Goo“ ist ein wahrlich seltsames Album. Das 1990 für kurze Zeit den Alternative-Rock aus den Angeln hob.
Veröffentlichung: 1990
Label: DGC Records