The Magnetic Fields – „69 Love Songs“ (Merge)
Da zum Jahreswechsel traditionell wenig neue Musik veröffentlicht wird, nutzen wir die Chance, den Blick in die Vergangenheit zu richten: Statt neuer Langspieler stellen wir wegweisende Alben vor, die 2024 ein Jubiläum gefeiert haben. In dieser Woche ist es „69 Love Songs“ von The Magnetic Fields, das in diesem Jahr 25 Jahre alt geworden ist.
In „69 Love Songs“ nach einer tieferen Bedeutung zu suchen, ist vergebliche Liebesmüh. Das hat Stephin Merritt, der Autor dieser drei CDs und fast drei Stunden schweren Songsammlung, immer und immer wieder klargestellt. Der New Yorker Kopf der Indie-Pop-Gruppe The Magnetic Fields gibt sich in Interviews stets als pragmatischer Zyniker. Was ist für ihn der Sinn des Songwritings? Anderen Menschen zu zeigen, welche Musik man gerne mag. Warum genau 69 Lieder? Inspiriert von den „114 Songs“ des US-Komponisten Charles Ives hätten es eigentlich 100 werden sollen, doch bei dieser besonders witzigen Zahl fühlte es sich gut an, aufzuhören.
„69 Love Songs“, das 2024 sein 25-jähriges Jubiläum feiert, ist auch kein Album über die Liebe. Oder eine große Meta-Revue über das Konzept „Liebeslied“ an sich, die seine Kitschigkeit und Leere ein für allemal demonstriert, sondern schlichtweg 69 Fingerübungen für den musikalischen Handwerker Merritt.
Das kann man alles lesen und ihm irgendwie auch glauben. Doch dann hört man diese Songs. Es braucht nur drei Stücke, vom eröffnenden Harmonie-Strudel „Absolutely Cuckoo“ über den fühlbaren Weltschmerz von „I Don’t Believe In The Sun“ bis zum transzendentalen Barock-Folk von „All My Little Words“. Und plötzlich muss man sich irgendwie mit der Realität abfinden, dass die möglicherweise schönsten Liebeslieder der modernen Pop-Musik von einem absoluten Zyniker geschrieben wurden.
Melodien, die Zynismus transzendieren
„69 Love Songs“ war tatsächlich einmal von Merritt als Revue konzipiert worden – und klingt stellenweise auch so. Verschiedene Sänger*innen geben sich das Mikro abwechselnd in die Hand, mit Merritts seidenem Bass-Gesang als größter Konstante. Er und seine Mitstreiter*innen singen von evokativen Charakteren, wie dem glücklichsten Mann der Lower East Side, einem Cowboy-Vater oder Abigail, der Schönheit von Kilronan. Wenn man nach ihm sucht, ist der Abstand zwischen Song und Songwriter hier stets spürbar. Offensichtlich ist er in den besonders ätzenden, die Hörer*innenschaft förmlich abstoßenden Genre-Spielereien „Love Is Like Jazz“, „Punk Love“ und „Experimental Music Love“. Subtiler findet er sich in Merritts Texten, in den abgedroschenen Klischees und stark gedehnten Reimen („Be we in Paris or in Lansing / Nothing matters when we’re dancing“).
Doch der größte Zaubertrick von „69 Love Songs“ ist, dass das Wissen über Merritts Pragmatismus überhaupt nichts ändert. Ein Lied wie „I Don’t Want To Get Over You“ mag für ihn eine pure Etüde sein. Doch die Melodien transzendieren den Zynismus. „The Book Of Love“, ein Stück, das aus seiner Doppelbödigkeit keinen Hehl macht („The book of love has music in it / In fact that’s where music comes from / Some of it’s just transcendental / Some of it’s just really dumb“), wird heute noch regelmäßig auf Hochzeiten gespielt. Auch die Miniaturen, wie das kunstvoll gezupfte „Boa Constrictor“ oder das barocke Mini-Kunstlied „The Cactus Where Your Heart Should Be“, sind unironisch herzzerreißend, egal wie ironisch der Text daherkommt.
Liebeslied als Selbstzweck
Und das sind alles nur Lieder von der ersten CD. Wer möchte, kann auf „69 Love Songs“ etliche perfekte Pop-Momente suchen und finden. Wie das himmlische Wiegenlied „Time Enough For Rocking When We’re Old“. Oder das von Shirley Simms wunderbar verletzlich gesungene „No One Will Ever Love You“, das sich problemlos auf ein Fleetwood-Mac-Best-Of einfügen könnte. Das von Dudley Klute mit Tom-Waits-Charme vorgetragene, mit dramatischen Flöten und Glockenspiel ausstaffierte Noir-Glanzstück „Blue You“, gefolgt vom lupenreinen 80er-Jahre-New-Wave-Throwback „I Can’t Touch You Anymore“. Das im seltsamen 21/8-Takt daherkommende „Love Is Like A Bottle Of Gin“, das trotzdem federleicht klingt. Oder die Slowcore-Country-Ballade „Papa Was A Rodeo“, in der Merritt das Maximum an Schmalz aus seiner Stimme herausholt – und trotzdem mühelos die Tränendrüsen anwirft.
Vielleicht ist „mühelos“ das Schlüsselwort, um die Zauberei von „69 Love Songs“ am besten zu beschreiben. Es ist schwer vorstellbar, dass solch ein Mammutwerk so einfach aus diesem Menschen herausfloß. Ohne große Bedeutung, einfach zum Selbstzweck.
Veröffentlichung: 14. September 1999
Label: Merge