Die Goldenen Zitronen – „Inventur (1984–2024)“ (Album der Woche)

Von ByteFM Redaktion, 2. Dezember 2024

Cover des Albums „Inventur“ von Die Goldenen Zitronen

Die Goldenen Zitronen – „Inventur (1984–2024)“ (Buback)

Im schönsten Fall bietet ein Best-of-Album eine Gelegenheit, einer Band beim wachsen zuzuhören. Und bei nur wenigen Gruppen ergibt das so viel Sinn wie bei Die Goldenen Zitronen – eine Band, die die künstlerische Ausweichrolle so gut beherrscht wie niemand sonst hierzulande. Kein Wunder, dass die 1984 in Hamburg gegründeten Deutsch-Punk/Diskurs-Pop/Krautrock/Electro-Funk/No-Wave-Chamäleons bereits mehrere solcher Compilations veröffentlicht haben. Da ist einmal „Aussage gegen Aussage“ aus dem Jahr 2002, ein erster Versuch eines klassischen Best-of-Albums. Oder „Flogging A Dead Frog“, die 2015 veröffentlichte Sammlung von englischsprchigen Neuinterpretationen älterer Zitronen-Stücke. Beide Compilations sind aber natürlich, der langen Geschichte der Gruppe um Sänger Schorsch Kamerun und Gitarrist/Bassist Ted Gaier geschuldet, unvollständige Zeitdokumente.

Vollständigkeit ist das größte Versprechen von „Inventur“, der nun erscheinenden Mega-Compilation der Goldenen Zitronen, die pünktlich zum 40. Bandjubiläum erscheint. 44 Songs aus vier Jahrzehnten. Verteilt auf drei LPs. Was dekadent, fast schon größenwahnsinnig klingt, ist aber schlichtweg die einzig richtige Methode. Die vollständige Verwandlung der einstigen biertrunkenen Fun-Punk-Kapelle zur Anti-Pop-Institution ist eine der faszinierendsten Metamorphosen der deutschen Pop-Musik, die hier mit Detailverliebtheit nachvollzogen wird.

Beim Wachsen zuhören

Schon zur Gründungszeit 1984 setzten Die Goldenen Zitronen sich mit ihrem Punk, Schlager und Rockabilly verquirlenden Sound von ihren Deutsch-Punk-Zeitgenoss*innen ab. Die in loser Chronologie geordnete „Inventur“ fängt diese Anfangszeit umfangreich auf der ersten LP ein. Es beginnt mit dem lustvoll polternden Titeltrack des Debütalbums „Porsche, Genscher, Hallo HSV“, der mit Nonsens-Parolen klarmacht, warum diese Band damals den Stempel „Fun-Punk“ aufgedrückt bekam. Doch andere frühe Provokationen deuten noch mehr die Abenteuerlust der Zitronen an: „Am Tag als Thomas Anders starb“, der die Band früh zur Zielscheibe der Klatschpresse werden ließ (Zitat Bravo 1986: „Makaber, geschmacklos, eine Gemeinheit“), ist schunkelnder Alt-Country, mit Banjo-Geklimper von Rodrigo González.

1987 sangen Die Goldenen Zitronen noch „Für immer Punk“, Hand in Hand mit Szene-Kollegen wie González’ späterer Band Die Ärzte. Als zum Start der 90er-Jahre Weggefährten wie etwa Die Toten Hosen den stadionfreundlichen Konsens-Weg einschlugen, wurden die Zitronen seltsamer. Und gemeiner. Die Radikalität von Platten wie „Fuck You“ (1990) oder „Punkrock“ (1991) knallt noch viel mehr auf „Inventur“, wenn Sekunden vorher noch relativ unpolitisch gespaßpunkt wurde. Plötzlich kombiniert diese Band in „Alles was ich will (Nur die Regierung stürzen)“ breitbeinige Westernhagen-Rock-Riffs mit Zeilen wie „Also dachte ich mir, es wäre auf keinen Fall verkehrt / Wenn sich in manche dieser Leute eine Kugel verirrt“. Oder groovt in „Die chinesische Schubkarre“ so Die-Sterne-esk, als wären sie schon immer Teil der Hamburger Schule gewesen (die sie zum Ende des Jahrzehnts auf „Dead School Hamburg (Give Me A Vollzeitarbeit)“ für tot erklärten).

Radikale Giftspritzen

Trotz der erwähnten losen Chronologie mixen die Zitronen auf „Inventur“ ihre jeweiligen Phasen wild durch – was wiederum erneut ihre Radikalität unterstreicht. So stehen mit „Das bisschen Totschlag“ und „0:30, Gleiches Ambiente“ zwei definierende Spoken-Word-Giftspritzen von zwei unterschiedlichen Alben direkt nebeneinander. Der eine Song verurteilt den neuen alten deutschen Rassismus Post-Wiedervereinigung (insbesondere nach den Pogromen in Hoyerswerda und Rostock-Lichtenhagen), der andere die sich an ihrer eigenen Coolness aufgeilenden Szene-Boys der Hansestadt („Hast Du den neuen Quentin Tarantighno [sic] schon gesehen?“). Hört man beide Songs direkt hintereinander, zeigen sie umso eindrucksvoller, was für eine Sprengkraft diese Band hatte.

Und bis heute hat. Seit „Das bisschen Totschlag“ verweigern sich Die Goldenen Zitronen der Wiederholung, was das letzte Drittel von „Inventur“ eindrucksvoll zeigt. Die einzigen Konstanten von „Economy Class“ (1996) bis zu ihrem aktuellen Werk „More Than A Feeling“ (2019) sind Kameruns immer wieder schmerzende Textsalven und die konstante Wandelbarkeit der Musiker*innen, die ihn umgeben. Man könnte über viele dieser 44 Songs ganze Essays schreiben. Darüber, dass „Wenn ich ein Turnschuh wär“ schon 2006 die Unmenschlichkeit der europäischen Asylpolitik messerscharf aufzeigte. Oder über den unterschätzten hypnotischen Kraut-Rock-Albtraum „Rittergefühle“, der zum Abschluss der Compilation verdientes Rampenlicht bekommt. Der direkt Lust macht, diese kolossale Songsammlung noch einmal von vorne zu hören – um sich noch einmal daran zu erfreuen, was für einen wahnsinnigen Weg diese Band zurückgelegt hat.

Veröffentlichung: 29. November 2024
Label: Buback Tonträger

 

Bild mit Text: Förderverein „Freunde von ByteFM“

Das könnte Dich auch interessieren:



Deine Meinung

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert