Beatmusik hat das Jahr 1964 in Ost und West musikalisch mitgeprägt
Im Jahr 1964 eskaliert der Vietnamkrieg. Japan richtet die Olympischen Sommerspiele aus und zeigt sich nur 19 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs als modernes Land. Die DDR öffnet die Mauer für Beatmusik. Ein Jahr des Traumas und Aufbruchs. Welche Musik hat dieses Jahr mitgeprägt und wie haben Künstler*innen auf das politische Geschehen reagiert? Ein Rückblick auf drei Länder in Ost und West.
Vietnam: Tragödie
Anfang August 1964 ist das „Donnergrollen“ in Südostasien schon deutlich zu spüren. Die Welt befindet sich im „Kalten Krieg“. Vietnam ist nach der Genfer Indochina-Konferenz seit zehn Jahren entlang des 17. Breitengrades provisorisch geteilt. Im Norden, in Hanoi, regieren Kommunisten unter Ho Chi Minh. Im Süden herrscht in Saigon ein prowestliches, autoritäres Regime, das von den USA unterstützt wird. Eine für 1956 geplante gesamtvietnamesische Wahl, die zur Wiedervereinigung der Landesteile führen sollte, wird wohl von der antikommunistischen Regierung im Süden aus Angst vor einem Sieg der Kommunisten abgelehnt. Die Militärjunta unterdrückt brutal jede Opposition, ein gnadenloser Bürgerkrieg bricht im Süden aus. Die von der Kommunistischen Partei dominierte „Nationale Front zur Befreiung Südvietnams“ (Vietcong) nimmt den bewaffneten Kampf gegen die Regierung in Saigon auf, der in der Folge auch durch Nordvietnam unterstützt wird.
Die US-Regierung ist in der Logik des Ost-West-Konflikts gefangen. „Eindämmungspolitik“ und „Dominotheorie“ sind tragende Säulen ihrer Außenpolitik. Washington befürchtet nach dem „Verlust“ Chinas, dass weitere Länder in der Region kommunistisch werden und will hier „die Schlacht gewinnen“. Durch massive Wirtschaftshilfe und Lieferung moderner Waffen soll das bedrängte Regime in Saigon stabilisiert werden. Die CIA wird ermächtigt Sabotagetrupps zusammenzustellen, die im Norden Aktionen durchführen sollen. Die Zahl der US-Militärberater steigt bis 1962 auf über 9000.
Rolling Thunder
Diese Maßnahmen stellen sich als unzureichend dar, das autoritäre Regime wankt beträchtlich. Die ständige Verfolgung der Opposition treibt den Vietcong immer neue Kämpfer zu. Auch die großflächige Verwendung von Herbiziden (Operation Ranch Hand) und Napalm in Südvietnam, um einerseits Ernten zu vernichten und andererseits den Vietcong die Rückzugsgebiete zu nehmen, bringt nicht den erhofften Erfolg. US-Präsident John F. Kennedy konstatiert bereits im Frühjahr 1963: „Die Leute dort hassen uns. Sie würden uns am liebsten mit einem Tritt in den Hintern rauswerfen.“ Diese Erkenntnis führt allerdings nicht zu einer Abkehr des US-Engagements. Im Gegenteil. Die Zahl der Berater steigt bis November 1963 auf 16 300. Nach der Ermordung Kennedys gibt sein Vize Lyndon B. Johnson die weitere Marschroute vor. Er „werde es nicht zulassen, dass Vietnam den gleichen Weg nimmt wie China“. Vor einem Einsatz von US-Bodentruppen schreckt er im Wahljahr 1964 noch zurück. Dafür sollen die verdeckten Operationen gemeinsam mit dem südvietnamesischen Militär gegen den Norden (geheime Luftüberwachung, Sabotage) ausgebaut werden. Zudem werden vom Pentagon Pläne für einen Luftkrieg gegen Nordvietnam erstellt.
Am 4. August 1964 sind die Weichen für den „furchtbaren Irrtum“ (Ex-Verteidigungsminister Robert McNamara) gestellt. Der „Zwischenfall im Golf von Tonkin“ vor der Küste Nordvietnams ist der Start des US-amerikanischen Abenteuers, das schätzungsweise bis zu drei Millionen Vietnames*innen und mehr als 58 000 Amerikaner das Leben kosten wird. Zwei im Golf kreuzende US-Zerstörer werden angeblich von nordvietnamesischen Schnellbooten beschossen. Ein Angriff, den es jedoch nicht gab. Für die Johnson-Regierung jedoch Anlass tags darauf nordvietnamesische Marinestützpunkte bombardieren zu lassen. Tage später ermächtigt der US-Kongress die Administration „alle notwendigen Schritte zu ergreifen, um die Angriffe abzuwehren“. Hanois-Premierminister reagiert auf den Beschuss seines Gebietes und die Resolution selbstbewusst: „Wir werden siegen.“
Die massive US-Luftoffensive „Rolling Thunder“, die einige Monate später gegen Nordvietnam gestartet wird, hebt zwar die Moral des Saigoner Regimes, kann aber nicht über den desaströsen Zustand ihrer Armee hinwegtäuschen. Die Verluste im Kampf gegen die Vietcong und Desertionen sind enorm, zudem werden US-Basen angegriffen. Die US-Militärführung fordert dringend Bodentruppen.
Der erste Rock-’n’-Roll-Krieg
Am 8. März 1965 landen die ersten Marines am Strand von Danang. Ende des Jahres sind es über 180 000, zwei Jahre später sind 485 000 Soldaten in „Nam“. Die USA übernehmen die Kriegsführung. Mit gewaltiger Feuerkraft soll der Widerstand der Vietcong gebrochen werden. Als Gradmesser für den Erfolg zählt der menschenverachtende „body count“ der toten Gegner und die „Tötungsrate“. Diese Abnutzungsstrategie mit Luftangriffen vor allem im Süden Vietnams, dem Einsatz von Napalm und dem chemischen Entlaubungsmittel „Agent Orange“, um dem Gegner die Deckung durch den dichten Dschungel zu nehmen, führen nicht zur Niederlage der Vietcong, sondern verheert ganze Landstriche.
Bis heute leidet die Bevölkerung unter den furchtbaren gesundheitlichen Spätfolgen. Eroberte Gebiete können oft nicht gehalten werden. Immer mehr Männer werden in den Krieg geschickt. Die Zahl der Gefallenen steigt. Es gibt keine klaren Fronten, die tropische Hitze und Insekten demoralisieren die GIs. Den meisten von ihnen fehlt es überdies an Sprachkenntnissen und an Wissen über das Land, in dem sie für nur vage Ziele kämpfen. Der Argwohn gegen die Zivilbevölkerung wächst, jeder kann „Vietcong“ sein und ein potentieller Feind. Die US-Streitkräfte können schlussendlich nicht die Oberhand gewinnen, und auch in der Heimat schwindet die Unterstützung für den Krieg.
Die meisten Soldaten sind extrem jung, der Altersschnitt liegt bei etwa 22 Jahren, ein Thema, das der britische Keyboarder Paul Hardcastle zehn Jahre nach dem Ende des Krieges mit dem Track „19“ aufgreift. Viele sind mit Rock und Soul aufgewachsen, und versuchen mit Musik die Todesangst, die Langeweile oder das Heimweh zu bekämpfen. „Purple Haze“ von Jimi Hendrix, The Animals mit „We Gotta Get Out Of This Place“, Nancy Sinatras „These Boots Are Made For Walkin’“ oder James Brown mit „Say It Loud – I’m Black And I’m Proud“, der sogar 1968 in Südvietnam vor GIs auftritt, sind extrem populär. Aber auch patriotisches Liedgut, das den Durchhaltewillen steigern soll, erklingt. Einige greifen selbst zu Instrumenten. Das deutsche Label Bear Family Records hat mit „Next Stop Is Vietnam“ 13 CDs mit 332 vom Vietnamkrieg inspirierten Tracks veröffentlicht. Das „Vietnam War Song Project“ kommt sogar auf gut 6000 Lieder mit einem solchen Bezug. Dieser Krieg gilt als erster Rock-’n’-Roll-Krieg.
In Vietnam werden viele US-Wehrpflichtige aus ärmeren Schichten eingesetzt. Studenten, wie etwa Donald Trump, entgehen hingegen oft dem Kriegsdienst. Diese Ungerechtigkeit prangern Creedence Clearwater Revival mit „Fortunate Son“ an.
Die USA verlieren ihren ersten Krieg. Bereits 1973 hatten die USA, Nord- und Südvietnam ein Waffenstillstandsabkommen abgeschlossen. US-Kampftruppen werden abgezogen und den Südvietnamesen die Kriegsführung überlassen. Als Schlussakkord erklingt zwei Jahre später Bing Crosbys „White Christmas“. Ende April 1975 wird dieses Lied im US-amerikanischen Radio in Saigon gespielt, als geheimes Signal für die Evakuierung der Hauptstadt. Die letzten fast 1400 Amerikaner und Tausende mit ihnen verbündete Vietnamesen verlassen hektisch die Stadt per Hubschrauber, bevor nordvietnamesische Truppen einrücken und die Kapitulation Südvietnams entgegennehmen.
Japan: Triumph
Während es 20 Jahre dauern wird, bis sich die Beziehungen zwischen dem vereinigten Vietnam und den USA normalisieren werden, steht im gut 4000 Kilometer entfernten Japan das Verhältnis zur einstigen Besatzungsmacht USA im Jahr 1964 auf einem festen Fundament. Tokio richtet die Olympischen Sommerspiele aus, die ersten in Asien, und präsentiert sich der Welt als „Wirtschaftswunderland“ und technologischer Vorreiter.
Eine atemberaubende Entwicklung nur 19 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs. Das Japanische Kaiserreich war in China und in weite Teile Südostasiens mit äußerster Brutalität eingefallen und hatte riesige Gebiete kontrolliert. Nach dem japanischen Überfall auf die US-Pazifikflotte in Pearl Harbor vom 7. Dezember 1941 und dem folgenden Kriegseintritt der USA ist es mit Expansionsstreben bald vorbei. Trotz fanatischer Gegenwehr der kaiserlichen Truppen können US-Verbände immer näher an das japanische Kernland heranrücken. Bis Kriegsende sind mehr als 60 japanische Städte durch Bombardierungen zerstört, die Wirtschaft steht kurz vor dem Kollaps. Aber erst die beiden Atombombenabwürfe auf Hiroshima und Nagasaki im August 1945 bewegen Japan zur Kapitulation.
Far East Network
In der folgenden Besatzungszeit unter US-Führung wird das Land grundlegend demokratisch erneuert und entwickelt sich im Kalten Krieg zum verlässlichen Partner der USA. Nach dem Abschluss des Friedensvertrages von 1951 wird Japan wieder souverän und fünf Jahre später in die Vereinten Nationen aufgenommen. Im Land kommt es zu einer wirtschaftlichen Hochwachstumsphase, die den Krieg allmählich verblassen lässt.
Die Olympischen Sommerspiele, das größte Nachkriegsereignis, die Kaiser Hirohito am 10. Oktober 1964 eröffnet, sind ein enormer internationaler Prestige-Gewinn für die Inselnation. Im Vorfeld sind umfangreiche Infrastrukturmaßnahmen, wie Autobahnen und U-Bahnlinien in Tokio, verwirklicht worden. Besonders Eindruck macht der Schnellzug „Shinkansen“, der kurz vor der Eröffnung der Spiele in Betrieb genommen wird. Tokio zeigt sich der Welt als moderne Metropole. Auch musikalisch ist der US-Einfluss beherrschend.
Die US-Militärbasen und die Radiostation „Far East Network“, die im September 1945 den Sendebetrieb aufnimmt, spielen eine enorm wichtige Rolle bei der Verbreitung westlicher Musik in Japan. Die US-Militärbehörden wollen, dass ihre Soldaten gut unterhalten werden und suchen ständig japanische Künstler*innen, die die US-amerikanische Musik, wie Jazz und Country, in den rund 500 Stützpunkte-Clubs spielen können. Eine lukrative und umkämpfte Einnahmequelle in dem kriegszerstörten Land und extrem wichtig für die Entwicklung der Musikszene und die Verbreitung des US-amerikanischen Lebensgefühls. Junge Japaner*innen können zudem im Radio die neueste US-Popmusik, wie Rockabilly, hören. Die während des Krieges zensierte Latin- und Jazzmusik fasziniert die Jugend wieder und nimmt ab 1955 verstärkt Einfluss auf die Mode. Der Kulturaustausch ist keine Einbahnstraße. Bereits in den 50er-Jahren treten die Jazz-Sängerinnen Hibari Misora und Kasagi Shizuko in Hawaii und an der US-Westküste auf.
Immer mehr japanische Bands entstehen und suchen nach dem Ende der Besatzungszeit 1952 alternative Auftrittsmöglichkeiten, die sie in den „Jazz kissa“ (Jazzcafés), Nachtclubs mit teils hunderten Plätzen, finden. Sie werden zum Treffpunkt großer Teile der städtischen Jugend, die die alten Werte der Kriegsgeneration ablegen möchte und sich nach einem freien Leben mit westlicher Musik sehnt.
Mitte der 50er-Jahre kommt der Rockabilly nach Japan und löst ein Beben aus und wird zur ersten Teenager-Jugendbewegung nach dem Krieg. Verbreitet anfangs durch japanisch-englische Coverversionen. Die Sängerin Chiemi Eri mit „Rock Around The Clock“ und die Version der Gruppe Wagon Mastersum Leadsänger Kazuya Kosaka von „Heartbreak Hotel“ finden ein begeistertes Publikum. Der Song ist 1956 das Startsignal für die „Rokabiri“-Welle. Sie ist keine bloße Kopie des US-Rockabillys, sondern schafft eine eigene Subkultur, Bands und Mode. Die Sänger tragen ein langes Jackett, Aloha-Hemd, hochgekämmte Tolle und Mambohose, die Frauen Ballon- oder Sackkleid. Gangs, die „Rokabiri-zoku“ verwandeln die Jazzcafés in Rockabilly-Läden und verschrecken ältere Japaner*innen mit ihren Lederjacken und rebellischem Draufgängertum.
Diese Musik verlangt nach größeren Hallen. 1958 strömen in einer Woche 45 000 Fans in das Nichigeki-Theater in Tokio, dem seinerzeit größten Veranstaltungsort, und verwandeln den Saal in ein Tollhaus. Weibliche Teenager werfen Toilettenpapier und Luftschlangen, die sich in den Gitarren verheddern und Rokabiri-zoku stürmen die Bühne. Die Medien berichten über dieses völlig neue Phänomen, das Obrigkeit, Lehrer*innen und viele Eltern fassungslos macht. Sie fürchten, dass die Kinder sich von traditionellen Werten entfremden und kriminell werden. Rokabiri wird aus Fernsehen und Radio verbannt, die Welle verebbt.
Es wird ein wenig softer. Den größten Erfolg feiert der der ehemalige Rokabiri-Sänger Kyu Sakamoto mit seiner romantischen Ballade „Sukiyaki“. Im Sommer 1963 ist sein Track für drei Wochen die Nummer Eins der Billboard Hot 100. Bis 2020 wird kein*e andere*r asiatische*r Künstler*in diese Chart-Position in den Hot 100 innehaben. Auch in der Bundesrepublik und in anderen Ländern ist der Song ein Hit. Er gilt als Symbol für die Rückkehr Japans auf die Weltbühne und ist mit gut 13 Millionen verkauften Tonträgern eine der bestverkauften Singles aller Zeiten. Das Liebeslied handelt von Verlust, aber auch von einer besseren Zukunft und spielt auch auf die gescheiterten Großdemonstrationen gegen den US-amerikanisch-japanischen Sicherheitsvertrag von 1960 an. Aber es bahnt sich schon das nächste große Ding an.
Big In Japan
Die US-Instrumental-Rockband The Ventures ist big in Japan und wird hier in den kommenden Jahren mehr als 40 Millionen Platten verkaufen. Rund 5000 Fans begrüßen die Band aus Tacoma, Washington anlässlich ihrer ersten Japan-Tour 1964 am Flughafen Tokio. Ihre Musik ist eine ohne Sprachbarrieren und ihr gitarrenbasierter Sound löst hier den sogenannten Eleki-Boom aus. Die japanischen Gitarrenbauer kommen kaum mit der Nachfrage hinterher. Hunderte E-Gitarrenbands entstehen, Musiker wie Takeshi Terauchi und Yuzo Kayama sind prägende Künstler dieser Ära. Terauchi (Jahrgang 1939) bekommt schon mit fünf Jahren seine erste Gitarre geschenkt, seine Mutter spielt die dreisaitige gezupfte Langhalslaute (Shamisen) und ist Musiklehrerin. Sein Vater betreibt ein Elektronikgeschäft. Mit Technik aus dessen Laden versucht er, seinen Sound zu verstärken und sein charakteristischer, rasanter Zupf-Stil ist vom Instrument seiner Mutter inspiriert. Erste Live-Auftritte als Gitarrist hat er mit anderen Bands, wie den Honshu Cowboys, wie viele andere Künstler, auf US-Basen. Er gründet 1962 das Surfmusik-Sextett Blue Jeans. Im Sommer 1966 treten sie als Vorgruppe der Beatles in Tokio auf. Ohne ihn, er muss wegen Erschöpfung passen. Was Terauchi aber nicht davon abhält, weiter erfolgreich Musik zu machen. Für den Autor James Greene ist er schlichtweg „Japans König der E-Gitarre“.
Während Japans Jugend begeistert den musikalischen Moden folgt, zeigt das DDR-Regime 1964 beim „Deutschlandtreffen“ Verständnis für die Beatmusik.
DDR: Tanz den Sozialismus
Im Frühjahr 1964 ist die DDR-Führung unsicher, wie weit die Spielräume in der Kulturpolitik gehen sollen. Der Mauerbau ab August 1961 sorgte für eine gewisse Konsolidierung, die Massenabwanderung in den Westen ist gestoppt. Die Bevölkerung muss sich mit dem SED-Regime arrangieren, viele Jugendliche halten jedoch Distanz zum System. Im Sommer 1963 sind weniger als 43 Prozent der Heranwachsenden Mitglieder beim Jugendverband FDJ. Hunderttausende jüngere Menschen waren zudem bis zum Mauerbau aus der DDR geflohen. Und so ist das einsetzende Tauwetter auch eine Reaktion darauf. DDR-Machthaber Walter Ulbricht möchte die Jugend für den sozialistischen Staat gewinnen und eine Riege jüngerer Funktionäre stellt im September 1963 das Jugendkommuniqué vor. Die ältere Generation soll den Jugendlichen gegenüber großzügig und verständnisvoll sein. Der „selbstbewusste Staatsbürger mit einem gefestigten Charakter“ werde gebraucht und Freiräume werden geöffnet: „Niemandem fällt es ein, der Jugend vorzuschreiben, sie solle ihre Gefühle und Stimmungen beim Tanz nur im Walzer- oder Tangorhythmus ausdrücken. Welchen Takt die Jugend wählt, ist ihr überlassen: Hauptsache, sie bleibt taktvoll!“
Dieses Entgegenkommen bedeutet aber keine allgemeine Liberalisierung. Stasi-Chef Erich Mielke droht schon mal mit „Arbeitshinweisen“ zur Bekämpfung von abweichendem Verhalten Jugendlicher. Anfang der 60er-Jahre ist das Massenphänomen Beatmusik über das Westradio ausgestrahlt auch in der DDR angekommen. Mode und Frisuren werden begeistert adaptiert. Eine Vielzahl von jungen Beat-Bands wie Butlers, Sputniks oder das Franke Echo Quintett gründen sich.
Der staatlich gelenkte Jugendverband FDJ versteht die Zeichen der Zeit und versucht, „die sich deutlich ankündigende Kulturbewegung in die Gesellschaft zu integrieren“. Beim „Deutschlandtreffen der Jugend“ im Mai 1964 in Ost-Berlin feiern rund 500 000 DDR-Jugendliche mit zehntausenden Westdeutschen zusammen und dürfen zum ersten Mal zu westlicher Musik tanzen. Ein eigens gegründetes Jugendradio „DT64“ nimmt hier den Sendebetrieb auf und berichtet live von den Auftritten der Bands wie Butlers und spielt rund um die Uhr Beatmusik. Im Oktober 1964 wird der erste Beat-Sampler der DDR produziert, den das DDR-Label Amiga veröffentlicht. 1965 organisiert die FDJ sogar einen „Leistungsvergleich der Gitarrengruppen“, die euphorisch ihren britischen Idolen nacheifern.
Der schlechte Einfluss westlicher Kultur
Bald ist es mit der Freiheit vorbei. Konservative Hardliner haben Angst, dass ihnen die Kontrolle über die Beatbewegung entgleitet. Anlass, um radikal umzuschwenken, ist ein Konzert der Rolling Stones im September 1965 in West-Berlin. Als es hier zu Krawallen kommt, werden diese von den DDR-Organen propagandistisch ausgeschlachtet und Stimmung gegen heimische Beat-Fans gemacht. Der westliche Kulturimport gefährde die Moral und habe einen schlechten Einfluss auf die Jugend.
Langhaarige werden drangsaliert, die Bands diskreditiert. „Mehrere Gitarrengruppen ahmen mit Vorliebe die Praktiken westlicher ‚Bands‘ nach … gebärden sich bei ihren ‚Darbietungen‘ wie die Affen“, heißt es in der Leipziger Volkszeitung. Ein Politbüro-Beschluss vom Oktober 1965 geißelt die „dekadente westliche Musik“, in den Medien wird die Musik verboten, den Beatgruppen die Lizenz entzogen.
Als in Leipzig ein Auftrittsverbot über die Butlers und andere beliebte Bands verhängt wird, gehen am 31. Oktober 1965 bei der „Leipziger Beatdemo“ vor allem junge Auszubildende und Arbeiter*innen gegen das Verbot auf die Straße. Die Demo wird mit aller Härte aufgelöst, 97 der Festgenommenen müssen danach für einige Wochen im Braunkohletagebau schuften. Für die Obrigkeit ist dieser nicht genehmigte Protest der endgültige Beleg über die Schädlichkeit der Beatmusik. Offiziell verboten lebt sie aber im Untergrund weiter.
Diskussionen
2 Kommentaretomwaits
Sep 4, 2024Moin moin,
ein wie ich finde sehr interessanter und gut geschriebener Artikel, der das ohnehin schon große ByteFM-Universum erweitert/bereichert. Ich finde es super, dass es ab und zu solche „special Blogs“ gibt.
But who is Rainer Szimm? Wäre schön, etwas mehr über den Autor zu erfahren :-).
Weiter so!
Viele Grüße, Frank
ByteFM Redaktion
Sep 5, 2024Lieber Frank, schön, dass es Dir gefällt. Wir freuen uns auch über die Bereicherung. Rainer Szimm wird uns übrigens ab Herbst als freier Autor unterstützen und regelmäßig Texte zu den Themen Pop/Politik verfassen. Viele Grüße aus dem Bunker, Dein ByteFM-Team.