Nabihah Iqbal – „Dreamer“ (Ninja Tune)
Ein eigenes Studio ist für Musiker*innen in der Regel mehr als nur ein zweckmäßiger Arbeitsplatz. Es ist ein intimer, selbstgeschaffener Raum. Ein Rückzugsort und das Zentrum des kreativen Prozesses, des „Nach-außen-Gehens“. Gefüllt mit den eigenen Instrumenten und Aufnahmegeräten, die wichtige Werkzeuge sind und den eigenen Schaffensweg symbolisch darstellen. Es kommt also einer Katastrophe gleich, wenn dieser Ort von Einbrecher*innen zerstört oder geplündert wird.
Genau das passierte Nabihah Iqbal. Die britisch-pakistanische Musikerin, Radiomoderatorin, Kuratorin, Dozentin und Menschenrechtsanwältin arbeitete gerade am Nachfolger zu ihrem gefeierten Solodebüt „Weighing Of The Heart“. Und dann war plötzlich alles weg. Alle Instrumente, alle Geräte und die gesamte bisher aufgenommene neue Musik. Inmitten dieser Hilflosigkeit bekam sie einen Anruf. Am Apparat war ihre Großmutter, ihr Großvater hatte eine Hirnblutung erlitten. Noch während die Polizei in ihrem leergeräumten Studio nach Fingerabdrücken suchte, flog Iqbal nach Pakistan zu ihrer Verwandschaft. Das alles ereignete sich zu Beginn des Jahres 2020 – just zu jenem Zeitpunkt, als die Welt von einer Pandemie lahmgelegt wurde.
„Dreamer“, Iqbals nun endlich fertiggestelltes zweites Album, ist natürlich von diesen schwerwiegenden Ereignissen gezeichnet. „You left your soul on the earth / You left without knowing its worth“, singt sie in „Sunflower“ und macht die Schwere dieses Verlusts spürbar. Es ist eine – und hier trifft diese Phrase ausnahmsweise einmal zu – sehr persönliche LP, auf der sie den Avant-Dreampop von „Weighing Of The Heart“ weiterentwickelt.
Ruhe inmitten des Sturms
Iqbals musikalische Laufbahn begann 2013 unter ihrem damaligen Projektnamen Throwing Shade mit knallbuntem Hyper-Pop (sie sang unter anderem auf der genredefinierenden Durchbruchssingle „Lemonade“ von Sophie). Von dieser Reizüberflutung ist nichts mehr übrig geblieben. Der Fokus auf „Dreamer“ liegt noch mehr auf analogen Instrumenten. Die digitalen Elemente klingen weicher, so gut wie gar nicht tanzbar.
So beginnt das Album mit „In Light“, einem musikalischen Salzwasserbad irgendwo zwischen dem nächtlichen Dreampop von Julee Cruise und dem schwerelosen Ambient von Stars Of The Lid. Iqbal singt den Songtitel immer und immer wieder, umgeben von sich ausdehnenden Synthesizern und einer verhallten E-Gitarre. Das endlose Reverb zieht sich auch durch den Titeltrack, in dem aber analoge Drums und ein Bass-Groove eine gewisse Erdung bieten. Andere Songs grenzen fast schon an Post-Rock oder psychedelischen Folk, wie „In Twilight“, in dem Iqbal mit einem einzigen Akkord maximale Wirkung erzielt. Oder der Abschluss „Closer Lover“, in dem Iqbal ihre Musik immer weiter in meditative Höhen aufsteigen lässt. Auch die etwas schwungvolleren Stücke, wie der sanfte Post-Punk von „This World Couldn’t See Us“ und die drei Electronica-Tracks „Sunflower“, „Gentle Heart“ und „Sky River“ fordern mehr zum Innehalten als zum Zappeln auf.
Und das Innehalten lohnt sich, denn die balsamierende Musik ist von großen Zeilen durchzogen: „Give me everything and nothing all at once / Let your emptiness overflow“, heißt es gleichzeitig resignierend und hoffnungsvoll in „This World Couldn’t See Us“. „Zum ersten Mal überhaupt habe ich Musik gemacht, bei der ich mehr Geduld hatte“, sagt die Musikerin selbst über den Aufnahmeprozess. Das merkt man in jeder Sekunde von „Dreamer“. Nabihah Iqbal scheint inmitten dieses Wirbelsturms aus Schicksalsschlägen eine neue Ruhe gefunden zu haben.
Veröffentlichung: 28. April 2023
Label: Ninja Tune